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Dienstag, 11. Oktober 2016

MEER VON TRAURIGKEIT





Manche Dinge haben Bestand und man erwartet auch nicht, dass sich etwas ändert.

Wie die Garderobenfrau in der Oper. Eine freundliche, gediegene Schwäbin, die ihre Abonnement-Kunden kennt und sich nur proforma die Eintrittskarten vorlegen lässt.
Auf die Frage, ob ein Programmheft gewünscht wird, lehne ich grundsätzlich ab. Ungelesen verstaubt es in irgend einem Regal und ist zudem recht teuer.
Statt dessen gebe ich lieber der Hüterin meiner Garderobe ein kleines Trinkgeld.

Heute jedoch bietet sich mir nach vielen Jahren ein völlig neues Bild: Ein unglaublich gut aussehender junger Mann steht hinter dem Ablagetisch – groß, schlank und dunkelhaarig. In seinem schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege hat er anschließend sicherlich noch ein Shooting bei Armani, könnte man meinen. Doch dazu fehlt ihm bei näherer Betrachtung diese glamouröse Selbstinszenierung, die bewundernde Blicke normalerweise nach sich zieht.
Statt dessen blicke ich durch glanzlose, unergründliche Augen in ein Meer von Traurigkeit. Mir wird kalt.

Als wäre es eine Kostbarkeit, nimmt er meinen Mantel mit vorsichtigen Handgriffen entgegen. Insgesamt macht er einen unsicheren Eindruck, da er nur ein paar unverständliche Worte murmelt. Vielleicht ist es ja die Frage nach dem Programmheft, die ich erwarte aber eigentlich nicht vermisse.
Vollends irritiert ihn das übliche Trinkgeld, das ich auf die Theke lege.
Wie mir scheint, ein Gestrandeter in einer fremden Welt.

Ich denke dabei an die Zeilen, die mir ein junger Syrer schrieb:
Die Freiheit war schwierig und teuer, aber besser als unter der Herrschaft der Tyrannen zu leben. Ich kann nicht mehr lachen und mein Herz ist voll von Schmerz.





Dienstag, 13. September 2016

DIFFUSE ÄNGSTE





Es ist Samstag Morgen, zehn Uhr in der Damenabteilung eines Kaufhauses.

Zielsicher steuert ein Ehepaar, beide schätzungsweise Mittfünfziger, eine bestimmte Modemarke an.
Die Dame will sich ein neues Outfit für den Herbst zusammenstellen lassen. Zu diesem Anlass wohl, hat sie sich die Haare, die in einem rotbraunen Palisander-Ton glänzen, zu einem akkuraten Pagenkopf legen lassen.

Ihr wohlgenährter Ehemann, der in sein rotes Gesicht ein breites Grinsen gesetzt hat, scheint mit seinem weltmännischen Auftreten den Eindruck von Erfolg und Geld vermitteln zu wollen. - Wahrer Geldadel zeichnet sich durch eine gewisse Nonchalance aus.

Während sich eine Kollegin um die Frau kümmert, wendet er sich an mich in Erwartung meiner Bewunderung:
„Wir sind heute morgen schon die 35 km von Kirchberg hergefahren …!“
Unbeeindruckt erwidere ich, dass ich morgens dieselbe Strecke zurückgelegt habe, um an meinen Arbeitsplatz zu kommen.
Mehr erfreut darüber, aus demselben Ort zu stammen als erstaunt, dass ich dieses weite Reise regelmäßig auf mich nehme, nimmt er an, ich würde diese Distanz mit Sicherheit im Auto überbrücken.
„Ich fahre immer S-Bahn ...“ erwidere ich lapidar.

Aus dem Hintergrund macht sich plötzlich die Frau bemerkbar und als hätte ich etwas Unmoralisches geäußert, ruft sie dazwischen:
„Ich würde NIE mit der S-Bahn fahren!“
Sofort wendet sie sich wieder Hosen und Pullovern zu, während meine Kollegin sich mit großem Eifer bemüht, ihren etwas „extravaganten“ Geschmack zu befriedigen.
„Die Bahn war heute morgen, am Samstag sicherlich nicht sehr voll“, versucht mich der Herr wieder in ein Gespräch zu verwickeln. Dies kann ich nun bestätigen und suche eine Möglichkeit zur Flucht, was bei mangelnder Kundenfrequenz um diese Uhrzeit nicht ohne Weiteres möglich ist.

„Zu anderen Zeiten wird man sicherlich oft belästigt, das ist doch bestimmt unangenehm.“
In dieser Hinsicht kann ich ihn beruhigen und stelle nur fest, sollte samstags der heimische Fußballverein gespielt haben, oder während der Volksfestzeit, ist eine Bahnfahrt alles andere als lustig.
„Weil manche dann aufdringlich werden?“
„Nein, wegen des Alkoholdunstes und der laut grölenden Fans“, erwidere ich nun doch in einem leicht gereizten Unterton. „Auch spät in der Nacht hatte ich noch nie Probleme. Die Züge sind voll und man trifft auch viel elegantes Theaterpublikum.“
Mich trifft ein verständnisloser Blick, aber ich will mich nicht auf etwas festnageln lassen, nur um irgendwelche Vorurteile zu befriedigen. Ist denn niemand in der Nähe, um mich aus dieser unangenehmen Situation zu befreien?

Einige Zeit später sehe ich sie zufrieden und mit einer großen Tüte von dannen ziehen. In ihrer Wohlstandskarosse, abgeschirmt von der bösen Welt, die draußen überall lauert kehren sie zurück in ihr sicheres Nest.

Hinter dem Gartenzaun beginnt das Abenteuer und nur, wenn man sich dem ab und zu stellt, sieht man die reale Welt.



Donnerstag, 14. Juli 2016

TRÜFFELSUCHE







Das grüne Herz Italiens, wie die Provinz Umbrien genannt wird hat keinen Zugang zum Meer und findet deshalb bei Urlaubern weniger Beachtung, als die Küstenstreifen. Es gibt nur einen großen See, den Lago Trasimeno, der in der Geschichte schon sehr früh Erwähnung findet, indem Hannibal mit seinem Heer die Römer in einer denkwürdigen Schlacht in den nicht allzu tiefen Fluten versenkte.
Die Liebe zu dieser Gegend wurde bei mir auch eher zufällig geweckt, als meine Tochter vor vierzehn Jahren die Universita per Stranierei in der Hauptstadt Perugia für ihr Studium der italienischen Sprache auswählte.

Noch nicht so sehr vom Tourismus erschlossen, liegt nicht wie an den Stränden der Geruch von Benzin und Sonnenöl in der Luft, sondern das Aroma von Pinien, Lorbeer und Rosmarin. Im Mai legt sich noch der schwere, süße, fast betäubende Duft der Akazien darüber.
Ein Paradies, nicht nur für die Nase sondern auch für den Gaumen. Die weitläufigen Wälder beherbergen außer Trüffel und Steinpilze, zur Freude der vielen begeisterten Jäger auch verschiedene Arten von Wildtieren.

In kleinen Läden hängen Speck und Würste aus Norcia vom Himmel, wie die sprichwörtlichen Geigen. Der etwas dumpfe Geruch vermischt sich mit dem salzigen von Pecorino-Käse und dem muffigen von unterschiedlichen Hülsenfrüchten, die oft in Jutesäcken gelagert werden.
Nicht nur die Wälder sind am Grün der Landschaft beteiligt, sondern auch die ausgedehnten Olivenhaine, die hochwertiges Öl liefern und auf den Hügeln wachsen die Reben für einen Montefalco Rosso oder den schweren Sagrantino. Ein gehaltvoller Weißwein wird um die Stadt Orvieto angebaut.

Mit viel Liebe und Fantasie werden aus diesen Zutaten in kleinen Trattorien einfache, traditionelle Gerichte komponiert.
Stundenlang geschmortes Wildschweingulasch. Zuppa di Fagiolina, eine Bohnensuppe aus den kleinen Bohnen, die nur in der Umgebung vom See wachsen. Die kleinen Berglinsen aus Castelluccio und Porchetta, ein Schweinerollbraten, gewaltigen Ausmaßes gefüllt mit Fenchelsamen, Rosmarin, Zitrone und Knoblauch. Wie bei uns in den Würstchen-Ständen werden Scheiben davon in einem Brötchen auf Märkten verkauft, oder in Metzgereien angeboten.
Selbstverständlich werden auch die Fische vom See auf die unterschiedlichste Art zubereitet.

Diese Spezialitäten entdeckt man am Besten selbst vor Ort und nicht durch die Empfehlung eines Reiseführers.
Vor den aushängenden Speisekarten an den Trattorien stehen bisweilen ratlos dreinblickende Touristen, die sich leicht erkennbar, durch Bequem-Sandalen, in denen weiße Beine stecken ausweisen. Um keine Überraschung zu erleben, entscheiden sie sich letztendlich für die Touristenfalle gegenüber und bestellen Pizza oder Caprese wie beim Italiener zu Hause.

Hat man einmal sein Lieblingslokal entdeckt und freut sich im nächsten Urlaub auf den herzlichen Empfang, existiert sie nicht mehr, oder sie hat den Besitzer gewechselt. Mit wenigen Tischen, im Kampf gegen große Restaurants geben viele auf.
So erinnere ich mich an handgemachte Pici, die dicken Nudeln mit Entenragout, begleitet von einer freundlichen Bedienung. In neuem Gewand gleicht dieses Restaurant einer Massenabfertigung und die völlig überforderten jungen Leute rasen zwischen den Tischen hin und her.
Die Karte macht trotzdem einen ansprechenden Eindruck und bestelle einen kleinen Kartoffelauflauf mit Trüffeln. Diese Sommertrüffel haben einen dezenten Geschmack und sind auch weniger kostspielig.
Beinahe ahnte ich meine Fehlentscheidung schon. Die aufgetürmten Kartoffeln schwammen in einer dicken, fast schwarzen Soße, deren extremer Trüffelgeschmack mit Sicherheit chemischen Ursprungs war.
Meine Geschmacksnerven wurden dermaßen beleidigt, dass sie seither jede Art von Trüffeln verweigern.

Aber da war doch noch dieser Amerikaner, der sich in der Lebensmitte zusammen mit einem italienischen Koch seinen Traum erfüllte und an historischem Ort ein kleines, romantisches Lokal eröffnete, wo er die traditionelle umbrische Küche pflegt.
Die Tische reihen sich noch immer entlang der Hauswand, nur dass uns statt eines zuvorkommenden, engagierten Amerikaners, diesmal ein lustloser, phlegmatischer Italiener bedient.
Ich bestelle aus der Karte handgemachte Tortellini in Safransoße.
Safran, das Gewürz der Könige und das teuerste überhaupt. Die feurig roten Samenfäden der Krokusse werden in Citta delle Pieve von Hand gezogen und verleihen einem Gericht mit nur ganz wenigen Fäden eine leicht gelbliche Farbe und ein einzigartiges Aroma.
Ich muss nicht einmal probieren, um festzustellen, dass ich für dumm verkauft wurde. Die Tortellini hatten zuvor ihr Dasein im Supermarkt gefristet und schwammen nun in einer quietschgelben Soße, die sich als völlig geschmacksfrei herausstellt. Die Farbe wurde wohl unter Zuhilfenahme von Kurkuma erzielt, ein zwar sehr bekömmliches Gewürz, aber doch nicht das gewünschte.

Trotz ein paar unliebsamer Überraschungen gibt es sie noch, die kleinen Familienbetriebe, in denen „La Mama“ manchmal ohne einen Ruhetag in der Küche steht und aus den Zutaten, die ihr die Natur bietet die herrlichsten Dinge zaubert.



Freitag, 17. Juni 2016

DETOX





20.30 Uhr. Trotz Klimatisierung ist es schwül in der Bahn.
Der Tag fühlte sich nicht gut an und ich bin müde. Warum tue ich mir das eigentlich noch an und gehe nicht in Rente? Aber so kurz vor dem Ziel aufzugeben, wäre finanziell gesehen eine schlechte Entscheidung, außerdem würden mir auch einige Menschen aus meinem beruflichen Umfeld fehlen.

Kann der junge Mann, der sich zwei Haltestellen später neben mir niederlässt nicht still sitzen? Ich möchte jetzt gerne meine Ruhe, zudem scheint sich sein Deo zu verabschieden.

Ein paar Minuten später wird der Platz gegenüber frei und mein hibbeliger Sitznachbar schwingt sich sofort auf die andere Seite.
„Hallo!“ werde ich begrüßt und ein Paar tiefdunkle Augen strahlen mich an.
Was will der bloß von mir? Betteln oder blöd anmachen?
Einen Moment lang überlege ich, mich wegzusetzen, jedoch, ich habe keine Chance. Sofort ergießt sich ein Redeschwall über mich in lückenhaftem Deutsch, untermalt mit hektischen Gebärden. In diesem jungen Körper scheint eine Energie gebündelt zu sein, die darauf wartet, ein Ventil zu finden.

„Ich bin neunzehn und komme aus Afghanistan. Ramadan, du kennst? Ich habe heute Kopfschmerzen, sonst nie Kopfschmerzen, aber nicht essen, nicht trinken.“
Ohne Pause fährt er fort. „Wo wohnst du?“ Wenn ich die Endstation angebe, ist das nicht sonderlich konkret und auch nicht gelogen.
Er wohne in einem Container in der Peripherie. Es sei sehr schön dort. Überhaupt sei Deutschland sehr schön und strahlt dabei die ganze Zeit vor Glück wie ein kleines Kind an Weihnachten. Voller Stolz zeigt er mir seinen neuen Ausweis, der seinen Aufenthalt hier legitimiert.

Noch nie habe er eine Schule besucht, die Taliban hätten ihn daran gehindert, wie seine ganze Familie auch. Endlich dürfe er hier eine Schule besuchen.

Zwischendurch sieht er auf seinem Handy immer wieder nach der Uhrzeit, in der Hoffnung, dass es bald halb zehn Uhr anzeigt und er endlich Hunger und Durst stillen kann. Mehrfach steckt er auch die Nase in den Ausschnitt seines Shirts und verzieht dabei sein Gesicht. - Mir bleibt nicht verborgen, dass seine Ausdünstungen an Intensität zunehmen, eine Folge von Nahrungs- und Wasserentzug. - Ich bleibe trotzdem.
Für uns ist dieses Ritual des Ramadan kaum nachvollziebar, genau so wie er mit Sicherheit nicht verstehen könnte, dass es Menschen unter uns gibt, die viel Geld für eine Hunger-Kur ausgeben. Im christlichen Glauben existiert zwar auch ein Fastenmonat, aber wie viele Epochen müssen wir zurückgehen, in welcher diese innere Reinigung in einer größeren Gemeinschaft begangen wurde?

„Wie alt bist du?“ fragt er mich in seiner unerschrockenen Art.
Vierundsechzig entgegne ich wahrheitsgemäß, worauf er für einen kurzen Moment die Sprache verliert, um mir dann umgehend zu erklären, seine Großmutter sei fünfzig, hätte aber viel mehr Falten.
Das müsse wohl an unserem guten Essen liegen, sinniert er.

Mit völligem Unverständnis reagiert mein Gegenüber auf die Tatsache, dass ich nur ein Kind habe und meine Tochter noch nicht in der Lage war, mich mit einem Enkel zu beglücken. In Afghanistan seien fünfzehn Kinder eigentlich die Regel. Er selbst habe sieben Geschwister und ich bekomme Familienfotos auf dem Handy gezeigt.

Vater und Mutter sind von der Härte ihres Lebens gezeichnet und sicherlich jünger, als sie aussehen. Daneben stehen ein paar struppige Jungs.
Auf keinem Gesicht entdeckt man ein Lächeln.
Das ist meine Schwester!
Auf dem nächsten Foto sehe ich eine wunderschöne junge Frau, wie eine Prinzessin aus 1001 Nacht. Malerisch auf dem Boden sitzend hat sie ein großes Tuch in strahlendem Himmelblau locker um Kopf und Schultern gelegt. Dazu trägt sie eine Pluderhose, die nur eine Nuance im Farbton abweicht.
Ich zeige meine Begeisterung über diese Schönheit, worauf Kamra (inzwischen weiß ich seinen Namen) mir in Gebärdensprache deutlich macht, dass sie von den Taliban gezwungen wird Vollverschleierung zu tragen.

Nur noch eine halbe Stunde, bis es wieder etwas in den leeren Magen gibt.

Ob ich Arbeit für ihn wüsste, er würde auch zehn Stunden für wenig Geld arbeiten. So gerne möchte er seiner Familie etwas schicken.

Ich muss eine Station früher aussteigen und notiere mir schnell noch seine Telefonnummer auf einem Zettel. Es ist nur eine Geste und kein Versprechen, aber ich ernte einen überaus dankbaren Blick.

Einerseits bin ich froh, frische Luft atmen zu können, aber ich habe nun eine Ahnung davon, warum sich jemand auf den langen Weg von Afghanistan über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien bis nach Deutschland macht.


Mittwoch, 25. Mai 2016

BABEL






Zwei Menschen, die sich bisher nicht kannten haben dasselbe Ziel, einen Roman zu schreiben. Dies verbindet, und trotz großer räumlicher Distanz ergibt sich via Internet eine beinahe freundschaftliche Kommunikation über einen Zeitraum von zwei Jahren.
Gegenseitig macht man sich Mut während dieser Zeit, sobald einer der Beiden die Hoffnung zu verlieren droht oder an Kritik hart zu nagen hat. Arbeiten werden getauscht und begutachtet.
Beide haben zur gleichen Zeit ein fertiges Manuskript vorliegen und machen sich nur noch auf die Suche nach einem Verleger. Die Freude ist groß und man beglückwünscht sich, als dieses große Endziel wieder fast gleichzeitig erreicht wird.

Das verbindende Element, weiterhin etwas Gemeinsames zu erarbeiten entfällt. Es stellt sich heraus, dass sich zwei in ihren Biografien und Ansichten völlig verschiedene Menschen für einen kurzen, gemeinsamen Weg gefunden haben.

Der Eine begegnet der Welt mit Offenheit und der Andere kennt überall nur Grenzen, von denen er keine aus eigener Kraft überwinden kann.
Sie sprechen nicht mehr diesselbe Sprache.


Donnerstag, 21. April 2016

ICH BIN FREI !





Mein Handy signalisiert mir eine neue Freundschafts-Anfrage auf Facebook. Ich sehe mir solche Anfragen immer sehr genau an, bevor ich sie bestätige, deshalb bin ich auch etwas verunsichert, als ich beim Öffnen des Profils einen exotisch klingenden Namen und mir unbekannte Schriftzeichen entdecke.
Auf dem Foto ist eine glücklich strahlende junge Frau abgebildet und daneben der Text: „Waiting for true love.“
Nun, ich kann mich nicht für Integration stark machen und eine Anfrage, die eindeutig einer fremden Ethnie zuzuordnen ist verweigern.
Andererseits habe ich einen alten Freund, dessen Identität sich nicht eindeutig zuordnen ließ auch abgewiesen. Trotzdem überlege ich in diesem Fall: Ein Klick und der Kontakt ist wieder weggefegt.

Beim Öffnen der Seite offenbart sich mir nur unwesentlich mehr: Das Foto eines Jungen, der traurig seinen Kopf in die Hände stützt, Eheringe und wieder die Sehnsucht nach Liebe, dazu noch viel mehr unbekannte Schriftzeichen.
Möglicherweise ein Mädchen, das weltweit wahllos Kontakte sammelt. Tatsächlich tut sich weiterhin nichts …. bis mich eines Abends über dieses Profil eine Nachricht erreicht.
Hallo, guten Abend
Ich antworte mit Guten Abend, bist du Mann oder Frau?
Mann
Wir führen unsere Konversation auf Englisch fort und immer nur in ganz kurzen Sätzen. Ich erfahre bald, dass Hami aus Pakistan kommt und 22 Jahre alt ist. Er sei ein Flüchtling und von München zuerst nach Chemnitz, dann nach Dresden und zuletzt nach Meissen verlegt worden.
Sachsen sei sehr gefährlich meint er und ich solle mich mit ihm auf Deutsch unterhalten, weil er die Sprache lernen möchte. Mir kommt dieser Vorschlag sehr entgegen, da mein Handy sich mit Fremdsprachen anscheinend genau so schwer tut, wie ich.
Wo wohnen sie, werde ich gefragt, dabei wählt er immer das höfliche „Sie“. Meinen Wohnort gebe ich daraufhin mit Stuttgart an. Die kurzen Antworten dauern trotzdem sehr lange. Anscheinend stellt ihn nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift vor größere Probleme.
Was machst du?, frage ich weiter.
Nichts. Ich bin frei.
Ein Mensch, der nichts hat außer seiner Freiheit!
Ich muss kurz innehalten. Wissen wir eigentlich, wie reich wir sind?

Als nächstes meint er wieder auf Englisch, nicht alle Menschen seien schlecht, es gäbe auch gute darunter.
Und dann: Ich bin ihnen so dankbar.
Sie sind der erste Mensch, der sich freundlich mit mir unterhält.
Gute Nacht


Am nächsten Abend erfahre ich von Hami, dass er in einem Haus wohne, die Syrer aber in einem Camp.

Ein Rest von Misstrauen bleibt, schließlich kann sich jeder mit einer falschen Identität Vertrauen und Mitgefühl erschleichen, aber ich wünsche mir, dass ich einem jungen Menschen das Gefühl, angenommen zu sein vermitteln konnte.


Sonntag, 31. Januar 2016

HUNGER







Wir haben Hunger nach Leben, nach Liebe, Anerkennung, Erfolg, Freiheit …
Als Idiom begegnet und dieses Wort in jedem beliebigen Zusammenhang, aber wer kennt die eigentliche Bedeutung noch? Aus unserer Generation kaum jemand.
Vielleicht noch die ganz Alten, die den Krieg miterlebt haben, aber in unserem modernen Sozialstaat lässt man niemanden verhungern und seien die Lebensumstände auch noch so schlecht.
Tatsächlich trifft man die meisten Fälle von Adipositas am untersten Ende der wirtschaftlichen Erfolgsleiter. Im Gegensatz dazu, klärte mich eine Italienerin auf: “In Italien ist eine Frau, die Geld hat schlank!“ Dieses Statement dürfte ähnlich auch für andere europäische Länder gelten.
Falls dieses Schönheitsideal nicht durch medizinische Eingriffe angestrebt wird, versucht man es durch Hungern zu erreichen. Fasten wäre in diesem Fall die exaktere Bezeichnung.
Jeder gesunde Mensch beginnt wieder mit der Nahrungsaufnahme, bevor lebensbedrohliche Umstände eintreten. Durch eine psychische Störung kann dieser Moment ausgeschaltet werden, aber im allgemeinen sieht die Umwelt dabei nicht tatenlos zu. Ich selbst kann nicht beurteilen, ob dabei ein Hungergefühl entsteht, da diese Reaktion vom Betroffenen nicht mental steuerbar ist.
Mit Diäten kenne ich mich aus, da mir während meines ganzen Lebens eine Figur vorschwebte, die ich nur zeitweise annähernd erreicht habe. Der Magen knurrt und die Gedanken kreisen nur ums Essen, aber ich tröstete mich immer, sobald die zwei Kilo geschafft sind gibt’s wieder was Leckeres.


Mit echtem Hunger, ohne Aussicht auf Nahrung musste ich mich beim Schreiben meines Romanes „WARTEN AUF LOHENGRIN“ auseinandersetzen.
Wie beschreibt man ein Gefühl, das man nicht kennt? Wie kann man nachvollziehen, welche Schmerzen ausgelöst werden, wenn sich der Körper quasi selbst auffrisst. Wenn man sich nicht der schleichenden Apathie hingibt und noch in der Lage ist, Ratten zu fangen, die sich selbst von Kadavern ernähren. Das Bild von Kindern, die ihrem Instinkt folgend Kalk von den Wänden kratzen, den sie für ihr Knochenwachstum brauchen.
Bis irgendwann das größte Tabu gebrochen wird und keine Hürde mehr besteht, die den Schritt zum Kannibalismus aufhält.
Diese schaurigen Fakten wurden so übermittelt, nachdem Leningrad 1941 durch die Belagerung deutscher Truppen die allerschlimmste Not erleiden musste.
Während 872 Tagen starben 750 000 Menschen den Hungertod.

Obwohl satt und zufrieden musste ich mich diesem Thema stellen, um meine Geschichte möglichst authentisch zu Ende zu bringen.
Schostakowitsch hat seinen Kummer über dieses Drama mit der Leningrader Sinfonie in Musik umgesetzt. Ein Requiem für alle Gequälten und Umgekommenen. Eine Totenfeier.
Beim Schreiben habe ich mich mit dieser Musik umgeben. Sie ist laut, klingt stellenweise zerrissen und die Schläge mit dem Geigenbogen auf die Saiten sollen das Klappern der Gebeine hörbar machen.

Trotz aller Bemühungen, Hunger für mich ansatzweise fühlbar zu machen, ist es nur bei einer Betrachtung von außen geblieben und ich hoffe für alle Zeiten, dieses Gefühl nie kennenlernen zu müssen.





Mittwoch, 6. Januar 2016

LOVERBOY







Frauen, in Metropolen heute: Jung, gutaussehend gebildet, aufstrebend – Single.

Fünf dieser modernen Amazonen, alle Anfang dreißig treffen sich regelmäßig in einer deutschen Großstadt zu gemeinsamen Freizeit-Aktivitäten. Meistens jedoch an Orten, die von etwa Gleichaltrigen des anderen Geschlechts frequentiert werden.
Single ist man nicht freiwillig, doch man verliert sich gegenseitig in einem unüberschaubaren Angebot und redet sich irgendwann resigniert ein, zufrieden in diesem Status zu verharren, bevor wieder eine Enttäuschung wegzustecken ist.

Reisen unternimmt man entweder mit einer der Freundinnen oder, nimmt ein Angebot für alleinstehende Frauen wahr.
So stürzt sich auch Sarah in ein Abenteuer und fliegt ohne Begleitung in die Karibik.

Drei Wochen später, wieder zu Hause schwärmt sie von ihrem Urlaub in den höchsten Tönen. Mit ihren lichtblonden Haaren seien ihr die einheimischen Männer scharenweise zu Füßen gelegen und sie habe sich in eines dieser exotischen Exemplare schwer verliebt.
Schon bald möchte sie ihn in seiner Heimat wiedersehen, weil ihm eine Ausreise verwehrt ist und macht sich sogar Gedanken über eine gemeinsame Zukunft. Die anderen Frauen reagieren ziemlich irritiert über Sarahs Pläne und sind schlicht entsetzt, als sie ein paar Wochen später glücklich verkündet, sie sei schwanger.

Eine alleinerziehende Mutter, dazu noch mit einem schwarzen Baby – unmöglich. Man rät ihr allgemein zu einem Abbruch.
Für Sarah keine Option – im Gegenteil Jeremy, der Vater des Kindes darf nun nach Deutschland einreisen und dem gemeinsamen Glück scheint nichts mehr im Wege zu stehen.
Nach und nach kommen zweifelhafte Tatsachen ans Licht. Jeremy hat in seiner Heimat Frau und Kind und was keiner auszusprechen wagt, seinen Unterhalt hat er möglicherweise durch liebeshungrige Touristinnen verdient.
Sextourismus war früher nur ein Thema, mit dem man Männer in Verbindung gebracht hat, laut Statistik aber mittlerweile von ebenso vielen Frauen wahrgenommen wird.

Jeremy kommt nach Deutschland, wo das Geld, wie er denkt auf der Straße liegt und nur darauf wartet aufgesammelt zu werden.
Sarahs Freundeskreis weigert sich, Jeremy willkommen zu heißen, da sie in ihm nur einen Schmarotzer sehen und tatsächlich lässt er Sarah trotz Schwangerschaft für sich arbeiten, bewegt sich nicht aus der Wohnung und mäkelt den ganzen Tag über die ungewohnte Kälte, auch die der Menschen, weil er ihre Sprache nicht spricht.
Außer einer distanzieren sich die anderen Freundinnen von ihr und vebannen sie aus ihrem Kreis, weil sie einer intelligenten Frau diese Kurzsichtigkeit nicht zugetraut hätten.
Die Verbindung hält dem Alltag nicht stand und Jeremy fliegt zurück.

Ein paar Monate später bringt Sarah ein süßes Mädchen zur Welt mit einer Haut wie Milchkaffee. Jeder zeigt sich erleichtert, dass es hauptsächlich die Gene der Mutter geerbt hat und nicht die tiefschwarze Hautfarbe des Vaters.
Alle sind glücklich, auch die Freundinnen können sich nun mit ihr freuen.
Jeremy kommt zurück, um wenigstens für einige Zeit seine Vaterpflichten zu erfüllen, aber eine Akzeptanz erfährt er nach wie vor nicht.


Freitag, 1. Januar 2016

GLITZER




Auf dem Boden der Tatsachen liegt eindeutig zu wenig Glitzer!





Am letzten Tag des Jahres sieht man beim Eintritt ins Rentenalter lieber im Fernsehen den Anderen beim Feiern zu, einfach weil man bedächtiger mit seine Resourcen umgeht.

Zufällig fällt mir dabei ein eingeblendeter Name auf und in Sekundenbruchteilen läuft ein Film vor meinen Augen ab.
Genau! So hieß der „Hansi vom Bodensee“ mit Nachnamen!
Ein Studienfreund aus den Jahren 71/72. Jeder nannte ihn nur „Dr Bodasee“, weil er seinem Heimatgewässer so sehr verbunden war, dass wir uns darüber lustig machten.
Ich erinnere mich an einen sportlichen Naturburschen, der mich mit seinem Humor immer zum Lachen brachte. Wir zwei waren ein tolles Team. Jeder half dem Anderen in Fächern in denen Schwächen vorhanden waren. Manchmal saß man danach zusammen noch in einer Kneipe beim Bier.
Unsere Aura lud sich irgendwann elektrisch auf und es fing an zu knistern. Doch beide waren wir zu diesem Zeitpunkt liiert, was in diesen wilden Zeiten des Aufbruchs und der Anarchie eigentlich keine Bedeutung hatte. Moral war nur etwas für Spießer. Wir widersetzten uns trotzdem dem Zeitgeist und entschieden Freunde zu bleiben.

Nach vier Semestern ergriff ich regelrecht die Flucht. Heute käme man vielleicht zu der Diagnose „Burn-out“, damals wunderte man sich nur, warum ich sogar mit meinen damaligen Freunden abgeschlossen hatte und allmählich verschwanden auch die Namen aus meinem Gedächtnis.

Viele Jahre später fing ich an, mich dafür zu interessieren was aus ihnen geworden ist, vor allem aus Hansi. Aber wie sollte ich an irgendwelche Kontakte anknüpfen, ohne deren Identität zu kennen? Auch die sozialen Medien konnten mir nicht weiterhelfen.

Jetzt erst, nach vielen Jahren wurde mir dieser Name per Zufall serviert und da mein Smartphone immer in Reichweite liegt, mache ich mich daran, kurz vor Mitternacht Hansi zu googeln.

Sein Name erscheint sofort … in einem Nachruf!
Dieser einst kräftige und gesunde Mann starb an einer Krankheit im Alter von 63. In seiner Heimat war er wohl sehr erfolgreich, brannte aber an allen Enden wie er beschrieben wurde.
Es gibt keine Möglichkeit für ein „Weißt du noch? …“ - Gespräch mehr. Die Zeit ist um.

Obwohl ich Neujahr nie mit guten Vorsätzen beginne denke ich trotzdem, wir sollten zum Sprung ansetzen und dem bisschen Glitzer, das uns jeder Tag beschert Aufmerksamkeit schenken, darüber staunen und die Zeit nicht einfach verstreichen lassen.