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Freitag, 12. September 2014

Begegnungen am Montag






Mir gegenüber sitzt ein betagter Herr mit einer Tasche. Montags um halb zehn fahren nicht sehr viele Personen mit der S-Bahn, dafür sind sie unterschiedlicher in ihrer Art, als zu einem früheren Zeitpunkt.
Auf dem Platz schräg gegenüber, sehe ich einen älteren Mann mit struppigen, weißen Haaren und einem üppigen Leo-Tolstoi-Gedächtnisbart.
Nach wenigen Haltestellen steht der Herr, mir gegenüber auf und nimmt das Kissen, das er im Rücken hatte unter den Arm. "Wie daheim auf dem Sofa," schmunzle ich innerlich. "Es geht doch nichts über ein bequemes Reisen!"
Tolstoi verlässt ebenfalls die Bahn, dafür steigen zwei Inderinnen mit prachtvollen Saris ein. Der eine in Rot und der andere in Grün, jeweils reich mit schwarzen Pailletten bestickt. Da sich die Temperaturen in unserem Breitengrad nicht zum Tragen eines leichten Saris eignen, haben sich die beiden Damen schwere Wildleder-Jacken über die nackten Schultern gelegt, was der Eleganz einigermaßen abträglich ist.
Eine Station, bevor ich mein Ziel erreicht habe, nimmt links von mir, nach Alter und Optik zu urteilen ein Student Platz und breitet sein Frühstück aus. Den zwei Pappbechern, die er auf die Ablage stellt, entweicht ein eigenartiges Aroma. Einer der Becher beinhaltet zweifelsfrei Kaffee und aus dem Größeren fängt er nach dem Öffnen an zu löffeln - Linsensuppe!
Der Geruch von Linsensuppe kann sehr appetittanregend wirken, aber nicht um diese Tageszeit und nicht in Verbindung mit Kaffee!
Ich bin froh, dieser exotischen Duftorgie an der nächsten Station entfliehen zu können.

Nach einem anstrengenden Arbeitstag mit noch mehr Begegnungen, mache ich mich wieder auf, um von der S-Bahnstation aus meine Heimreise anzutreten.
Noch drei Minuten, steht auf der Anzeigentafel. Meine Füße tun weh. Vielleicht finde ich noch einen Platz auf der Bank - aber was ist da passiert?
Oh Gott, ich bin dermaßen schockiert, dass ich nicht hinsehen kann und sofort ein paar Schritte weitergehe.
Da sitzt ein junger Mann im Rollstuhl. Bis auf Bade-Shorts völlig nackt. Soviel ich in dem kurzen Moment registriere, macht er einen gepflegten Eindruck, aber sein ganzer Oberkörper samt den Armen hängt schlaff vorne über. Er scheint zu schlafen. Seine Beinstümpfe wirken irgendwie verdreht. Ein unerträglicher Anblick.

Hilft denn niemand? Kommt denn da keiner?
Die Personen in der Nähe vermitteln den Eindruck, als ob sie das nichts anginge. Meine Bahn fährt ein. Kann ich denn einfach gehen, ohne etwas getan zu haben?
Es ist schon so spät, außerdem sind da so viele Menschen, sicherlich ist schon Hilfe unterwegs. Ich steige ein und fahre weg, aber mein Gewissen lässt mir keine Ruhe. Ich hätte nicht einfach weggehen dürfen, quält es mich fast während der ganzen Fahrt.
Die ganze Situation schien so unwirklich, außerdem hatte ich kaum hingesehen. Saß da wirklich ein Mensch im Rollstuhl? Rückblickend betrachtet, kann es auch eine Puppe gewesen sein. Die Haut oder Oberfläche war viel zu glatt und makellos für einen Menschen.
Aber was war dies für eine Aktion? War es ein Test, wie viele einfach vorüber gehen? Ich hätte einen schlechten Eindruck hinterlassen.

Ich werde es wohl nie erfahren.


Sonntag, 7. September 2014

Alles nur Fassade



Wo immer man sich auf das Leben einlässt wird man enttäuscht. Alles dauert entweder zu lange, oder nicht lange genug.
Oscar Wilde





Warmherzigkeit und soziales Engagement sind Charaktereigenschaften, die einen Menschen wertvoll machen. Aber nur dann,wenn diese wirklich verinnerlicht in seinem wahren Wesen liegen.
Niemand kann auf Dauer eine glanzvolle Fassade aufbauen. Beim ersten Sturm zeigt sie Risse,bevor sie endgültig fällt.
Sobald aber Kälte und Herzlosigkeit hinter der Maske hervortreten, muss man fassungslos erkennen, wie sehr man sich hat täuschen lassen und spürt den Wunsch aufkeimen, diesem Menschen nie begegnet zu sein.



Mittwoch, 3. September 2014

Der kleine Herr Wu





Arbeit, Arbeit, rennen, laufen...
Tag für Tag geht er seiner Arbeit nach, der kleine Herr Wu. Fleißig, gewissenhaft und davon überzeugt, seine ihm gestellten Aufgaben sorgfältig zu erledigen.
Mit Elan baut er sein Projekt auf und sieht begeistert zu wie es gedeiht, doch bevor er die Früchte seiner Arbeit ernten kann, wird ihm ein anderes Projekt zugeteilt. Als gewissenhafter Mensch geht er von Neuem an sein Werk.
Alle um ihn herum haben immer nur ein und dieselbe Aufgabe. Sie identifizieren sich mit ihr. Es gibt ihnen Ruhe und Struktur in ihrem Alltag, wogegen Herr Wu täglich neuen Anlauf nimmt.
Arbeit, Arbeit, rennen,laufen...
Neuer Tag, neues Projekt. Rennen, rennen...
Er kann doch so viel mehr. Sieht das denn keiner?
Hat er denn keinen Wert? Immer nur das zu erledigen, was sonst keiner will?
..und wieder geht ein Tag zu Ende voller Mühe und Enttäuschung.
Gesenkten Blickes geht er seinen Weg.
Da liegt etwas vor seinen Füßen auf der Erde. Ein Glückskeks mit einer Botschaft in seinem Inneren. Er bricht ihn auf, entnimmt den kleinen Zettel und liest:
„Kompetenz, wie Deine ist unterbewertet.“

Ein Zeichen des Himmels!
Du kannst mehr als die Anderen! Nur Du hast die Kompetenz !
Das Schicksal hat dem kleinen Herrn Wu einen Weg gewiesen, um sich selbst mit anderen Augen zu sehen:
„Ich habe die Kompetenz! Mir traut man zu, dass ich jede Aufgabe erfülle!
Morgen, ja gleich morgen werde ich wieder die Position ausfüllen, die man mir zuteilt!“

Glücklich und zufrieden zieht er weiter, der kleine Herr Wu und fühlt sich ganz groß.