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Mittwoch, 4. November 2015

EMOTIONEN





Seit zwei Monaten ist mein Erstlingswerk „Warten auf Lohengrin“ nun auf dem Markt. Die Biografie meiner Großmutter, die zwei Weltkriege erleben musste ist gleichzeitig das Schicksal von unzähligen Menschen.
Es gab in diesen schweren Zeiten viele stille Helden, die allmählich vergessen werden. Die Generation nach 1945 wollte nichts mehr über den Krieg hören und trotzdem spürt man, dass sie immer noch schwer an dieser „Kollektivschuld“ trägt.

Ich bin überrascht und manchmal tief gerührt, welche Reaktionen mein Buch ausgelöst hat.
Sehr oft musste ich hören: „Hätte ich doch meine Eltern gefragt, als sie noch lebten, leider habe ich das versäumt.“
Eine Nachbarin - eine alte Frau - bedankte sich dafür, dass ich so viele Erinnerungen in ihr ausgelöst habe und erzählt, ihre Schwägerin wickelte als Säuglings-Schwester kleine Kinder in nasse Tücher, um sie so vor dem Feuer im bombardierten Dresden zu retten.

Beeindruckt hat mich eine sehr junge Studentin, die fest in unserer modernen Zeit verankert ist und als Praktikantin in der örtlichen Tageszeitung einen wunderbaren Artikel über mein Buch und mich als Autorin geschrieben hat. „Lohengrin“ musste sie googeln, worüber ich mir Gedanken mache, wo wir mit unserer Schulbildung heute stehen, aber dann hat sie sich in kürzester Zeit in die Materie hervorragend eingearbeitet.

Ein alter Freund, der sich als Literaturverweigerer outet, wollte nur mir zuliebe mal wieder ein Buch in die Hand nehmen und hat es anschließend freiwillig sofort ein zweites Mal gelesen. Nur die Erotik kam seiner Meinung nach etwas zu kurz.

Am meisten überraschten mich die Reaktionen der Menschen aus meinem persönlichen Umfeld, die ihre Wurzeln nicht hier, in Deutschland haben.
Eine junge Bekannte aus Eritrea wollte unbedingt die erste sein, die mein Buch in Händen hält.
Ein Italiener zeigte mir seine Begeisterung in einer überschwänglichen, dramatischen Theatralik, die nur in seiner Heimat zu finden ist.
Die Polin, deren Vorfahren unter der deutschen Herrschaft eigentlich sehr gelitten haben müssten, meinte: „Ich liebe dein Buch!“
Beim Lesen so zu Tränen gerührt wurde eine Brasilianerin, dass sie Sorge hatte, die Mitfahrer in der Straßenbahn würden ihr aus Mitleid von allen Seiten Taschentücher reichen. Deshalb verzog sie sich anschließend lieber ins stille Kämmerlein.
Diskussionen löste es bei einer Kroatin mit ihrem deutschen Freund aus, wem denn dieses Buch denn nun gehöre, wo doch jeder sein eigenes Lesezeichen platziert hat. Nachdem sie allerdings darauf hingewiesen hat, dass ihr Name als Widmung verewigt wurde, war die Situation eindeutig.
Schließlich möchte sich eine Finnin für die Vermarktung einsetzen und eine schwarze Perle aus dem Senegal fragt mich ganz schüchtern:“Wenn ich deinen Roman in einer Buchhandlung bestelle, darf ich dann sagen, dass du meine Kollegin bist?“ Sie scheint stolz darauf zu sein, mich zu kennen, dennoch gibt mir die Frage zu denken.
Dann ist da noch dieser junge Ungar, der genau so aussieht, als wäre er der ungarische Tenor in meinem Roman, und plötzlich wirklich geworden.
Sie alle haben keinen Bezug zur deutschen Geschichte, und wo wir versuchen die Vergangenheit abzuarbeiten, ist es für sie nur ein Roman, der überall stattgefunden haben könnte.

Der bewegenste Moment allerdings war, als ich meinen Roman bei Facebook vorstellte und plötzlich ein Kommentar erschien: „Deine Oma ist auch meine Oma.“
Meine Cousine, zu der ich seit mindestens dreißig Jahren keinen Kontakt mehr habe und dabei wohnt sie gerade mal zwei Straßen entfernt von mir!
Dies ist genau die Situation, die Sabine Bode in ihren Recherchen über die sogenannten Kriegsenkel beschreibt. Durch das Verdrängen der Traumata entstand nur Kälte in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Kriegsgeneration. Die Familien zerbrachen. Meine Cousine und ich waren die unfreiwilligen Opfer.
Seit vielen Stunden sitzen wir nun zusammen und arbeiten das auf, was uns getrennt hat.



Sonntag, 6. September 2015

EIN SOMMER





Eintauchen in die Wärme der Tage.

Der Duft von Blüten in Harmonie
mit der Musik der Zeit.

Das Leben schmeckt nach Schwarzwälder Kirsch,
süß und leicht beschwipst.

Gedanken tanzen mit der Leichtigkeit von Federn
im Wind.

Geöffnete Herzen verströmen Emotionen,
eine Ahnung von Schmetterlingsküssen.

Worte wie spielende Kinder – nächtelang.
Umarmt vom Universum.

Die Blätter beginnen zu fallen.

Sonntag, 23. August 2015

AVATARE





Avatare schwirren durch den virtuellen Raum.
Blutleere, gesichtslose und stumme Wesen mit synthetischen Charakteren auf der Suche nach einem echten Menschen, um sich für einige Zeit dort anzudocken.

Reale menschliche Wesen ohne echte Gefühle konstruieren sich eine Identität und verbergen sich hinter diesem zweiten Gesicht. Luftschlösser werden gebaut, um dem eigenen kleinen Ego Größe zu verleihen und wie in dem Märchen von Hase und Igel ist es ihnen möglich, sich gleichzeitig auf verschiedenen Kontinenten aufzuhalten.

Manchmal aber suchen sie sich ein menschliches Gefühl, wozu sie selbst unfähig sind und sobald sie diesen realen Charakter ausgesaugt haben, ziehen sie sich wieder in ihr Nirwana zurück auf der rastlosen Suche nach einem neuen Opfer.


Freitag, 7. August 2015

DEKADENZ





Zähfließend, wie klebriger Sirup verrinnt die Zeit.
Bis zum Horizont scheint das Meer glatt und unbeweglich und nur durch den Bug der weißen Luxus-Yacht wird es durchschnitten. Außer dem monotonen Schlagen der Wellen gegen die Bordwand herrscht Stille.
Trägheit breitet sich aus unter der sengenden Sonne. Eine leichte Meeresbrise macht die Luft kaum erträglicher.

Frank lässt sich den zweiten doppelten Whisky auf Eis an seinen Deck-Chair servieren, während er selbstzufrieden seine Uhrensammlung betrachtet. Dreißig Wunder der Feinmechanik und jedes Teil findet seinen Platz in einem eigens dafür angefertigten, mit Samt ausgeschlagenen Koffer.
Der Alkohol legt sich allmählich wie eine Dunstglocke über seinen Kopf und lässt die Bewegungen in der Hitze schwer werden.

Am Pool räkelt sich Carla auf einem Day-Bed. Schön, wie eine griechische Göttin. Ihr langes, weißes Kleid wird von goldenen Spangen gerafft und ist bis zur Hüfte geschlitzt. Obwohl schon Ende Fünfzig und damit ein paar Jahre jünger als Frank, scheint sie sich, dank moderner Chirurgie die ewige Jugend erkauft zu haben.

Sam, der dunkelhäutige, kubanische Steward stellt neben ihr einen Kühler mit einer Flasche Champagner auf das Deck und reicht Carla ein gefülltes Glas. Seine Muskeln zeichnen sich unter dem dünnen Hemd ab, als wären sie aus Stein gemeißelt.
Angewidert schüttet sie den Inhalt ihres Glases in den Pool. „Der Geschmack langweilt mich, was finden bloß alle so besonders daran?“
Überhaupt empfindet sie nur noch unerträgliche Langeweile auch gegenüber Sam, der für ein paar Scheine jeden Service bietet, während Frank sich von zwei Thai-Mädchen verwöhnen lässt.

Diese Yacht war der große Traum und das letzte gemeinsame Ziel, das sie nach all ihren Immobilien anstrebten.
Zwei Luxusgeschöpfe in einem goldenen Käfig und sie haben sich nichts mehr zu sagen. Dabei haben sie sich einmal geliebt.


Donnerstag, 16. Juli 2015

KLASSENTREFFEN






„Hallo Charlie... du ?!“ Die Nummer auf dem Display vom Telefon ist mir nicht bekannt.
„Ich dachte, wir könnten ein Klassentreffen veranstalten. In unserem Alter weiß man nicht, wie lange das noch möglich ist.“
Drei unserer Mitschüler haben uns schon verlassen, erfahre ich im Gespräch. Einer von ihnen ist schon vor Jahren in Marokko an Lungenkrebs gestorben. Ein anderer, obwohl ein guter Sportler, war anscheinend schon lange Zeit krank und niemand wusste davon. Beim Dritten kennt keiner genau die Gründe. Drogen oder so … 68er Generation eben.

Damals, vor 45 Jahren nahm die Schule meinem Gefühl nach nicht denselben Stellenwert ein wie heute. Man wurde nicht durchgeschleust, um möglichst schnell eine tolle Karriere zu absolvieren, sondern sah darin auch eine Institution, die Allgemeinbildung vermittelt.
Ab der 10. Klasse trennten sich viele Wege. Einige begannen mit einer Berufsausbildung, andere wechselten zu einem fachbezogenen Gymnasium und nur, wer ein konkretes Ziel vor Augen hatte, hielt bis zum Abitur durch. - So wie Charlie.
Er war immer Klassenbester und räumte einen Preis nach dem anderen ab. Man muss jedoch berücksichtigen, dass es für ihn nicht diese Ablenkungen gab wie für uns, da er von Geburt an blind ist.
Was heute zu unendlichen Diskussionen Anlass gibt, war für uns selbstverständlich. Den Unterricht verfolgte er anhand von Büchern in Braille-Schrift und Notizen machte er sich mit einem speziellen Stift. Klassenarbeiten tippte er in seine Schreibmaschine. Das erschwerte mitunter die Konzentration der übrigen Mitschüler, aber keiner wäre auf die Idee gekommen sich zu beschweren. Für seinen Nebensitzer war die Verlockung abzuschreiben groß und erst heute erfahren wir, dass es für ihn Grund genug war, die Blindenschrift zu erlernen.
Beide promovierten später. Der eine in Jura und der andere in Naturwissenschaften. - Ein erfolgreiches Team.

Mit einem seltsamen Gefühl gehe ich zu diesem Treffen, denn an meine Schulzeit erinnere ich mich nur ungern. Zurückhaltend und möglichst unscheinbar saß ich in der hintersten Bank. Immer mit der Hoffnung, dass mich die Lehrer dort übersehen. Nach vorne, an die Tafel zu gehen, kam mir einer öffentlichen Bloßstellung gleich.

Wenige Schritte vor dem Lokal sehe ich Matze. Was hat ihn bloß so unverändert erhalten?
Er ist immer noch ein lässiger Typ - cool würde man heute sagen -„Ich fand dich in der Schule schon toll, aber damals mit sechzehn warst du für mich unerreichbar“, eröffnet mir Matze zum Abschied und ich fühle mich wie ein Teenager, der zur Tanzstunde eingeladen wird. mit einem Faible für schwarze, amerikanische Sportwagen. Mit dem Gesicht oft in meine Richtung gewandt statt zum Lehrer, saß er eine Bank vor mir. Zu seinem Leidwesen wurden diese jugendlichen Flirtversuche von mir nicht als solche wahrgenommen.
„Matze!“ Drei Mal rufe ich seinen Namen und versuche mich bemerkbar zu machen, aber er hört mich nicht. Nun ja, denke ich, er hat mittlerweile auch die sechzig überschritten und muss etwas schmunzeln.

Drinnen sind schon fast alle versammelt und teilweise habe ich Mühe, die Gesichter richtig einzuordnen. Bei ein paar jedoch, kommt die Erinnerung sofort zurück.
Die Ulli sieht schlecht aus,denke ich so bei mir und muss kurz darauf erfahren, sie habe Krebs.
Alle haben wir das eine oder andere Zipperlein und schlucken brav die verordneten Tabletten, aber Krebs hört sich so endgültig an. Etwas, was man gerne ausblendet, solange man nicht selbst davon betroffen ist.

„Kommt Harald aus Amerika?“ Alle dachten, er hätte mit seiner „Green Card“ das große Los gezogen, aber als Architekt hat er im gelobten Land ziemlich zu kämpfen, wie er erzählt und verspricht, beim nächsten Treffen dabei zu sein. Auch meine damals beste Freundin hat sich auf die schriftliche Einladung nicht gemeldet. Dolmetscherin wollte sie werden, aber über Google weiß ich nun, dass sie Skulpturen aus Holz fertigt.

Außer bei unseren Doktoren sind die großen Karrieren ausgeblieben. Die Männer arbeiten teilweise in sozialen Berufen. Dieses Engagement verdient jedenfalls großen Respekt. Von den Frauen besitzt eine einen Kosmetiksalon und dann gibt es noch die Lehrerinnen. Ein Beruf, der damals gerne ergriffen wurde.
Eine Geographie-Lehrerin, kurz vor ihrer sicheren Pension stehend erklärt mir das Wetter und wie es zum Klimawandel kommt. Ein Leben für die Schule! Aber dann zieht sie ein komplettes Nagelnecessaire aus der Tasche mit der Bemerkung, sie habe immer alles lebensnotwendige dabei, sollten sie plötzliche Fluchtgedanken überkommen. Damit hat sie das Geheimnis unserer großen Handtaschen gelüftet.

Ulli verabschiedet sich schon früh mit der Entschuldigung, Kranke gehörten ins Bett. Bedauerlicherweise habe ich versäumt, mich mit ihr zu unterhalten. Ich dachte es bleibt noch Zeit.

Jeder hat schwierige Zeiten durchlebt. Ist hingefallen und wieder aufgestanden.
Während der Schulzeit war die nächste Klassenarbeit wichtig, oder dass man zu jeder Party eingeladen wird. So viele Gedanken um die Zukunft, wie heute machte man sich nicht. Die Wahlmöglichkeiten waren nicht so groß.
Als kleine Sensation wurde aufgenommen, dass ich angefangen habe zu schreiben. Niemand hätte dies mit mir in Verbindung gebracht.
„Ich fand dich damals in der Schule toll, aber mit sechzehn warst du für mich unerreichbar“, eröffnet mir Matze zum Abschied und ich fühle mich wie ein Teenager, der zur Tanzstunde eingeladen wird.

So viele Lebensläufe mit so viel Leben darin! Dabei haben wir uns in 45 Jahren nicht so sehr verändert, wie die Welt um uns herum. Nur an unseren Erfahrungen sind wir gewachsen.
Ein Zusammentreffen das bereichert hat und vielleicht lässt es sich bald wiederholen.


Samstag, 13. Juni 2015

MEIN WEG





WENN meine Freundin nicht nach dem Vorbild ihrers Bruders den Lateinzug am Gymnasium gewählt hätte, wäre die Wahl meines Bildungsweges mit hoher Wahrscheinlichkeit anders ausgefallen und meine Schulzeit in der Erinnerung nicht so negativ belegt.

WENN irgendwer meine Kreativität und Begeisterung für Modedesign wahrgenommen hätte, wäre ich nicht in einem Beruf gelandet in dem ich mich nie wirklich zu Hause gefühlt habe.

WENN ich Anfang der siebziger Jahre aus dem Umfeld der pseudo-intelektuellen Hippie-Szene, die mich als neuer Trend faszinierte nicht verabschiedet hätte um mich in einer Disco der Oberflächlichkeit hinzugeben, wäre ich nicht dem Mann begegnet mit dem ich seit vierzig Jahren mein Leben mehr oder weniger teile.

WENN mich mein Job nicht so angeödet hätte, wäre vielleicht eine große Karriere möglich gewesen, ohne dass meine biologische Uhr unüberhörbar hätte angefangen zu ticken und ich meine Zukunft plötzlich in der Mutterrolle sah.

WENN der Bauträger, bei dem ich um meinen Rentenanspruch nicht zu verlieren gearbeitet habe mich wegen Insolvenz nicht freigestellt hätte, wäre mein Traum von der eigenen Boutique wohl nie in Erfüllung gegangen, der mich allerdings selbst scheitern ließ.

Immer wieder steht man vor der Entscheidung, die eine oder andere Richtung einzuschlagen. Kein Weg ist genau vorgezeichnet. Die einmal getroffene Entscheidung kann allerdings nicht revidiert werden und den einmal gewählten Weg muss man unaufhörlich weitergehen. Ein Zurück, um eine andere Richtung einzuschlagen gibt es nicht.


Freitag, 22. Mai 2015

MACHT










Macht - erworben durch intelligente Strategien, unterdrücken Herrscher die Massen mit Ignoranz der Individuen.

In Alltagsgrau und Bedeutungslosigkeit versunken und nur durch Glücksfall oder juristische Schachzüge zu kleinen Herrschern aufgestiegen. Allein den eigenen Vorteil sehend und Konsequenzen ausblendend, im debilen Rausch der Macht. Besoffen von seligem Hochgefühl und blind für die Gefühle anderer.

Ihr werdet sterben, irgendwann, und nichts wird übrig bleiben, als ein schlechter Geschmack, in den Kehlen der Erniedrigten.


Montag, 4. Mai 2015

Die Fabel vom Veilchen, das groß und stark werden wollte.






Es ist Frühling. Die Narzissen stehen in voller Blüte und strahlen in leuchtendem Gelb. In Gruppen versammelt strecken sie ihre fröhlichen, jungen Gesichter der Sonne entgegen und lassen sich von ihr streicheln. Die allseitige Beachtung und Bewunderung genießend tanzen sie sanft im Wind.

Einsam, mit traurigen Augen und in dunklen violetten Samt gekleidet steht ein kleines Veilchen am Wegesrand. Erst gegen Abend bescheint die untergehende Sonne sein Bett aus Moos, von wo es voller Sehsucht zu den strahlenden Narzissen schielt.
„Ich bin so klein und unscheinbar, in meinem dunklen Kleid werde ich an diesem schattigen Platz von niemandem beachtet. Die Narzissen blicken voller Hochmut zu mir herüber. Niemals werden sie mich bei sich aufnehmen.“
Vor lauter Kummer lässt das Veilchen sein kleines Köpfchen hängen, während es mit seinem Schicksal hadert.
„Wenn ich mich sehr anstrenge und alle Kräfte mobilisiere, vielleicht kann ich dann noch wachsen!“
Seine feinen Wurzeln bohrt es auf der Suche nach wertvoller Nahrung tiefer und tiefer in die Erde. An nichts anderes kann dieses zarte Blümchen mehr denken, als ebenso schön und begehrenswert wie die Narzissen zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen wendet es mit einem unbändigen Willen seine ganze Kraft auf, um sich alles aus dem Boden zu saugen, was dieser herzugeben imstande ist.

Diese harte Arbeit und übernatürliche Anstrengung wird im Sommer belohnt. Aus dem unscheinbaren Veilchen hat sich eine kräftige, hochgewachsene Rose mit feuerroten Blütenblättern entwickelt. Wie ein Sonnenuntergang über dem Meer, so leuchtend rot streckt sie sich gen Himmel.
Zu ihrem Schutz hat sie sich in ein Dornenkleid gehüllt. Niemand soll sie mehr verletzen.
Glücklich, weil von jedermann bewundert blüht sie bis spät in den Herbst in ihrer vollen Schönheit.

„Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen“, tuscheln die inzwischen verwelkten und vertrockneten Narzissen voller Neid. „Mit Sicherheit verfügt sie über ein geheimes Zaubermittel, das ihre Frische erhält.“

Die Rose ignoriert, was über sie geredet wird. Nur sie allein weiß, welcher Kraftaufwand und wie viel Disziplin nötig waren, um sich ihren Traum zu erfüllen.

Die Moral von der Geschichte:
Bist du ein Nichts, bleibst du unbeachtet. Hast du Erfolg, bringt es dir zwar Neider, aber innere Befriedigung.



Dienstag, 28. April 2015

Hexen



Hexen sind hässliche alte Weiber, hausen im dunklen Tann, wo sie kleinen Kindern auflauern, um sie mit Süßigkeiten zu mästen.
Trotz ihrer Kenntnis, um geheimnisvolle Zaubertränke, ist der Rücken von Osteoperose gekrümmt und die Fingergelenke sind arthritisch verdickt.
Für ihre Flugreisen wählen sie einen wenig komfortablen Besen, der sie allerdings schneller befördert, als jedes andere Verkehrsmittel.

Ein Mythos aus längst vergangenen Zeiten. Vergesst, was ihr darüber gehört habt!

Hexen tragen Armani, reisen bequem im Cabrio und - sind rothaarig.
Ihr Körper ist aufgrund Pilates gestählt.Die Haut ist weiß und durchsichtig bis auf die feinen Blutgefäße. Die roten Pigmente der dichten Mähne strahlen im Licht.

Ihre Magie ist wesentlich subtiler.
Männer verzaubern sie in Traumprinzen. Aber wehe,wenn diese in Ungnade fallen, dann werden aus ihnen flügellahme, komische Vögel.

Deshalb hütet euch vor den Töchtern der Wikinger!




Mittwoch, 15. April 2015

Phase 3






Sammeln gehört wohl zu den Urinstinkten des Menschen. Kaum geboren, noch bevor wir selbst dazu in der Lage sind wird für uns gesammelt. Meist sind es kleine Geschenke aus Gold oder Silber, die als Andenken an den Tag der Taufe gedacht sind und uns ein ganzes Leben begleiten sollen.
An der Kommunion oder Konfirmation wird diese Sammlung noch erweitert und zur Hochzeit richtig ausgebaut. Als Tochter konnte man zu meiner Zeit ohnehin noch eine umfangreiche Aussteuer vorweisen. Alles Werte, welche die Zeit überdauern.
Kommt das erste Kind, gibt es wieder eine Vielzahl von Anschaffungen bei denen man hofft, sie finden eine weitere Verwendung und lagert sie bei ausreichendem Platz vorsorglich ein.
Tag für Tag geht man über viele Jahre hinweg zur Arbeit, um Geld zu verdienen von dem noch mehr Dinge angeschafft werden. Die Geschenke werden größer und vielleicht wertvoller. Das meiste davon verfügt auch nur über eine geringe Halbwertszeit, da nur einem kurzlebigen Trend gefolgt wurde oder die von der Industrie vorgesehene Haltbarkeitsdauer abgelaufen ist.
So versammeln sich Gegenstände, die nicht gebraucht werden in Räumen, die keine anderweitige Nutzung beanspruchen.

Mit Eintritt in die dritte Lebensphase, dem Rentenalter findet dieser Prozess seinen Abschluss. Man spürt dass etwas völlig Neues beginnt.
So wie sich die Natur verändert, sind auch wir dem Wandel unterworfen. Jedoch Veränderung erfordert Mut und die Kraft seine sichere Komfortzone zu verlassen und sich von Liebgewordenem zu trennen.
Als Erstes sollte man all das in Frage stellen, was die Zeit überdauert hat, von ihr aber gleichzeitig überholt wurde.
Ob die Ehe gefährdet ist, wenn ich das Brautkleid, das annähernd vierzig Jahre im Schrank überdauert hat weggebe? Bei den Schlittschuhen und Rollerblades, die schon lange auf eine weitere Aktivierung warten ist zu bedenken, dass die Knochen und Gelenke mittlerweile doch einen Teil ihrer Elastizität eingebüßt haben.
Die silbernen Kuchengabeln Modell „Hildesheimer Rose“ haben seit der Konfirmation ihr Dasein vergessen in einer Ecke des Schrankes gefristet und das gute zwölfteilige Tafelporzellan mit Goldrand aus der Aussteuer kommt jährlich einmal an Weihnachten zum Einsatz.
Dann ist da noch das Baby-Bett, bei dem davon ausgegangen wurde, dass irgend ein weiteres Familien-Mitglied seine ersten Wochen darin verbringt. Eigentlich ist doch egal, ob es in direkter Linie weitervererbt wird oder ob sich ganz neue Gene darin entwickeln können.

Im ersten Moment ist Loslassen schmerzlich, aber sobald man die Blickrichtung ändert stellt man fest, dass es sich ohne Ballast glücklicher lebt. Sich leicht und frei wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben mit der Neugier auf neue Horizonte. Oder etwa wie Superman? - Weil man sich ein gewisses Maß an Anarchie endlich leisten kann.






Freitag, 27. März 2015

Not just sad








Noch nie ging es einer Generation so gut wie den heutigen Endzwanzigern. Sie sind gut ausgebildet, haben alle Möglichkeiten, können sich frei entfalten, die Welt steht ihnen offen und doch sind sie unglücklich, leiden unter Depressionen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit.

In diesem Alter hat man heute schon alles erlebt. Im sicheren Job wurden schon alle Kontinente bereist, man hat eine oder mehrere Partnerschaften hinter sich und möchte nun endlich ankommen. Nur wo?
Von allem soll es das Beste sein, nur ist es das, was ich schon habe? - Oder lässt sich alles noch steigern. Alle anderen scheinen glücklicher und erfolgreicher. Warum bin ich nicht glücklich und fühle mich statt dessen müde, krank und ausgebrannt?

Da in unserer Leistungsgesellschaft nur der Starke zählt, traut sich keiner von diesen Erfolgreichen und doch Hoffnungslosen seine innere Zerissenheit einzugestehen, um nicht als Verlierer dazustehen. In Wirklichkeit sind die Kliniken für psychosomatische Krankheiten überlastet und wer dringend auf Hilfe angewiesen ist, wartet oft monatelang.

Sichtbar wird die Tragödie erst dann, wenn der inneren Zerstörung die äußere folgt.



Dienstag, 17. März 2015

Speed Dating




Das glaub' ich jetzt nicht! Auf meinem Handy erscheint eine eMail mit einer Einladung zur Leipziger Buchmesse. Sieben Minuten gibt man mir Zeit, um bei einem Dating mit einem Verlag mein Manuskript vorzustellen.
Natürlich habe ich mich vor ein paar Wochen über ein Forum Junger Autoren für diese Veranstaltung angemeldet, aber doch niemals mit einer Einladung gerechnet. Anscheinend hat man mich aufgrund meines Exposés und meines Blogs einer Teilnahme für würdig befunden.
In zehn Tagen, sonntags um 12 Uhr ist der Termin bereits, da bleibt mir bei einer sechsstündigen Anfahrt keine andere Möglichkeit, als einen Tag vorher anzureisen und zu übernachten.
Ob wohl schon alle Hotels ausgebucht sind?
In Kombination mit einer Bahnfahrkarte gibt es noch ein Zimmer und ich buche sofort. Da sollte man nicht lange überlegen.
Mein Manuskript muss noch vervollständigt und das bereits vorliegende Exposé ergänzt werden.
So ausgerüstet fahre ich nach Leipzig und erreiche am späten Nachmittag den dortigen Bahnhof. Der ist gigantisch groß und völlig verwirrend. Verschiedene Ebenen sind mit Rolltreppen verbunden und ich sehe keinen Hinweis darauf, wo ich dieses Gebäude verlassen kann.
Nachdem ich mich bis zum Ausgang durchgefragt habe, beschließe ich die Gelegenheit zu nutzen, in dieser mir bisher unbekannten Stadt einen kleinen Stadtbummel einzulegen, wobei ich von dem historischen Stadtbild sehr angetan bin.
Wie ich leider feststellen muss liegt das Hotel, welches ich so kurzfristig gebucht habe ziemlich außerhalb der Stadt und die Anbindung durch ein öffentliches Verkehrsmittel ist eher ungünstig. Bevor ich umherirre, nehme ich mir doch lieber ein Taxi, zumal es schon dunkel wird.
Am Taxistand winkt mir schon von weitem ein freundlicher älterer Herr zu - ein echter Leipziger, wie sich später herausstellt. Bei der Angabe meines Fahrtzieles stutzt er und weist mich darauf hin, dass es von dieser Hotelkette zwei Häuser in der Stadt gäbe. Bei meinen Anmeldepapieren finde ich weder einen Straßennamen, noch eine Telefonnummer (habe ich einen Teil der vielen Unterlagen vergessen?).
Er macht mir daraufhin den Vorschlag, zuerst ins näher gelegene Hotel zu fahren und auf mich zu warten, bis ich mich erkundigt habe, ob ich dort registriert bin. Mit dem Fahrstuhl geht es kurz in die siebte Etage, wo sich die Reception befindet und erhalte dort die Auskunft, im anderen Hotel gleichen Namens gebucht zu haben.
Weiter geht die Fahrt. Mein Taxi-Chauffeur gestaltet sie mit seinem sächsischen Humor recht kurzweilig und erzählt, Jahrgang 43 sei er (von wegen Rente mit 63).
Beim Einchecken im Hotel weist mich die junge Dame an der Reception darauf hin, ich möge doch mein Frühstück erst nach neun Uhr einnehmen, da zwei große Reisegruppen im Haus seien.
In der Sitzgruppe daneben warten zwei Frauen auf den Arzt, weil eine davon ohnmächtig wird oder zu ersticken droht.
Mir scheint ganz Leipzig ist im Ausnahmezustand.
Ich freue mich nun endlich auf die Ruhe in meinem Zimmer. An der Türe klebt das Nichtraucher-Zeichen. Ist mir recht, obwohl ich es nicht ausdrücklich verlangt habe. Jedoch beim Betreten des Zimmers habe ich den Eindruck, eine Kneipe am Morgen in den Siebzigern zu betreten. Das Zimmer wurde wohl noch am selben Tag zu Nichtraucher-Zimmer deklariert.
Gegessen habe ich auch schon längere Zeit nichts mehr. Ins Restaurant möchte ich eigentlich nicht, deshalb frage ich nebenan in der Sports-Bar den sympathischen Barmann, ob man irgendwo vielleicht nur eine Kleinigkeit bekommt.
„Nehmen sie bitte hier Platz und wählen etwas aus der Karte.“
Die zwei großen Bildschirme mit Fußball-Übertragung empfinde ich zwar ziemlich störend, aber lange möchte ich mich auch nicht aufhalten.
„Ich hätte gerne den Salat mit Roastbeef und ein Köstritzer Bier,“ gebe ich meine Bestellung auf.
„Haben sie etwas Zeit? Unsere Küche ist ziemlich im Stress,“ erklärt mir der freundliche Barmann mit Migrations-Hintergrund.
Nachdem er bei mir eine gewisse Unschlüssigkeit erkennt, fordert er mich auf ihm zu folgen. Um die Ecke ist ein unberührtes kaltes Buffet voller Köstlichkeiten aufgebaut, davon solle ich mir nehmen soviel ich möchte, es koste sechs-fünfzig.

Der Tag war recht ereignisreich und trotz einer gewissen Anspannung wegen meines Dates am nächsten Tag bin ich müde genug, um gut zu schlafen und bin deshalb auch schon früh ausgeruht, um vor neun Uhr beim Frühstück zu sein. Tatsächlich herrscht noch ein ähnlicher Betrieb wie in einer Bahnhofshalle, aber es lichtet sich schon allmählich, sodass ich einigermaßen ruhig mein Frühstück einnehmen kann.
Beim Auschecken lasse ich mir ein Taxi rufen und man bittet mich in der Lounge zu warten, der Fahrer würde mich dort abholen.
Nach einigen Minuten kommt ein seriös wirkender Herr im dunklen Mantel durch die Eingangstür, spricht mich mit meinem Namen an und fragt mich, ob ich ein Taxi bestellt habe. Leicht verwundert bejahe ich und werde zu der großen schwarzen Mercedes-Limousine begleitet, die direkt vor dem Eingang steht wo man mir die Türe zum Fond aufhält.
Nach der Nennung meines Zieles muss ich nun doch nachfragen, ob ich denn tatsächlich in einem Taxi befördert werde, nachdem ich auch kein Schild entdecken konnte, worauf der Herr am Steuer ganz locker antwortet, er käme vom Limousinen Service.
Nun ja, wer erfolgreich sein will muss klotzen und darf nicht kleckern. Deshalb kann es nicht schaden, mit Chauffeur vorzufahren, solange ich keinen Aufpreis dafür zahlen muss.

Die offizielle Öffnung der Messehallen beginnt erst und ich habe außerdem noch viel Zeit, mich vor meinem Termin in den Hallen umzusehen. Dort finde ich auch den Stand des Verlages mit dem ich in Kontakt treten soll und schaue mich dort um. Das Programm ist mir zwar einigermaßen bekannt, aber was ich dort sehe, sind nur Biografien von berühmten Personen. Bei diesem Genre denke ich nicht, dass wir zusammenkommen werden, da es sich bei meinem Manuskript eher um einen Roman handelt und meine Großmutter bislang noch nicht berühmt ist.
Um elf Uhr melde ich mich für die Veranstaltung an, hole meine Terminkarte und setze mich schon leicht erschöpft ins Foyer auf ein Sofa.
Im Vorfeld war meine Anspannung recht groß, weil ich bei diesem Speed-Dating einen Partner finden soll – also einen Verlags-Partner, aber in den letzten Stunden ist meine Anspannung regelrecht verflogen. Ich geh' da jetzt einfach rein denke ich mir, und erzähl' ein bisschen was. In sieben Minuten kann jemand eh nur einen kurzen, allgemeinen Eindruck gewinnen.
Eine Viertelstunde vorher, nehme ich auf der Stuhlreihe an der Seite des Raumes Platz. Wie in der Tanzstunde, wo man wartet bis man aufgefordert wird.
In der Mitte des Raumes sind kleine Tische verteilt, an denen sich immer zwei Personen gegenüber sitzen.
Der Gong ertönt. Ich bin dran. Der Verleger begrüßt mich freundlich lächelnd und stellt fest, dass ich ihm schon an seinem Stand aufgefallen sei. Meine Geschichte fasse ich in wenigen Worten zusammen und er lässt mich erzählen. Dieses Lächeln irritiert mich etwas.
Er erklärt mir, was ich zwischenzeitlich schon wusste, dass meine Geschichte nicht in sein Programm passt und gibt mir noch einige Tipps, wohin ich mich wenden kann. Wieder ertönt der Gong und er entlässt mich mit dem Wunsch, dass ich Erfolg habe.
Zumindest hatte ich das Gefühl als Person zu überzeugen. Es war eine tolle Erfahrung, die mir ein Stück Sicherheit gab mein Ziel weiter zu verfolgen.

Zum Bahnhof fahre ich wie gewöhnliche Leute mit der Tram und gehe vor meiner Heimreise in der Innenstadt zum Essen – Leipziger Allerlei und danach Eierschecke.

 




Donnerstag, 26. Februar 2015

Vom Werden und Vergehn






                                                      Sprache des Frühlings


                                     Jedes Kind weiß, was der Frühling spricht:

                                     Lebe, wachse, blühe, hoffe, liebe

                                     Freue dich und treibe neue Triebe

                                     Gib dich hin und fürcht das Leben nicht!


                                     Jeder Greis weiß, was der Frühling spricht:

                                     Alter Mann, laß dich begraben,

                                     Räume deinen Platz den muntern Knaben,

                                     Gib dich hin und fürcht das Sterben nicht!


                                                                                                     Hermann Hesse




Freitag, 6. Februar 2015

Mama muss weg



                                                                          
                                                                             
Unverstanden
Verkannt
An den Kirchturm gefesselt
Leben in Grau
Tag für Tag
Hier

Glanz
Horizonte
Vermeintliches Glück
Unerreicht
Jahr für Jahr
Dort

Schuld hat Mama

Warten
Im eisigen Wind
Warten
Blühende Gärten im Blick
Warten
Wohlstand so nah
Warten
Kalte Gesetze gebeugt

Mama muss weg


 


Montag, 12. Januar 2015

Nur Kleinkram









Wie geizig, engherzig ist die Erde eingeteilt, mit dem Himmel verglichen, der sich darüber wölbt.

Die Wolken fügen sich nicht eine Minute,
sie teilen sich nie ein,
sie beschränken sich nie auf ein einziges Bild,
sie verwandeln sich viel schneller, als jemand denken kann,
bald in Gebirge, bald in Fabeltiere;
einmal wachsen sie götterhaft, einmal wie Pflanzen.
Ihre Schatten jagen über den Kleinkram, der genau eingeteilt ist.


Anna Seghers


Donnerstag, 8. Januar 2015

Satire

Je grauenvoller eine Tat, desto höher der  Vermarktungswert.
Die Einzigen,  die keinen Nutzen daraus ziehen können, sind die Toten.

Dienstag, 6. Januar 2015

Stummer Schrei

Edvard Munk "Der Schrei"



Der runde Tisch - ein Symbol für Gleichstellung und Kommunikation. An diesem Tisch jedoch, bleibt jeder für sich und keiner spricht.
Der mit den langen Haaren und dem zerfurchten Gesicht, scheint auf seinem Stuhl eingeschlafen zu sein, er starrt nur vor sich hin. Die fette Frau mit den dunklen Schatten unter den Augen steht manchmal wortlos auf, um sich kurz danach wieder hinzusetzen. Ihr gegenüber, der ältere Mann, den man für einen Sachbearbeiter in einem Büro halten könnte, hat eine Notebook vor sich liegen und schiebt die Maus ruhig hin und her. Zwischendurch legt er mit sorgfältigen Bewegungen eine Diskette ein.
Alle scheinen ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Nur ein großer, junger Araber spricht manchmal ein paar Worte, die ungehört verhallen. Er wirkt fremd in dieser Runde mit seinen schwarzen Haaren und dem orientalischen Einschlag.

Sobald einer von ihnen auf den Balkon nebenan geht, um eine Zigarette zu rauchen, kommt trotz dieser allgemeinen Langsamkeit etwas Bewegung in die Runde. Viel Platz bietet er nicht, dieser kleine Balkon, der wie ein Käfig komplett vergittert ist.
An der Eingangstüre dieser Abteilung hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Psychiatrische Pflegestation“ und „Diese Türe ist heute leider geschlossen.“

Ein Ort der Stille, emotionslos, wie es scheint.
Die Emotionen dieser Patienten waren zuvor so groß und übermächtig, dass sie drohten, diese Menschen zu zerstören. Hier wird versucht, sie von diesen starken Gefühlen zu befreien. Jeder von ihnen stand vor einem Abgrund, in den er ohne fremde Hilfe gestürzt wäre.

Zwei Sanitäter bringen eine kleine alte Frau. Sie schreit und tobt, weil sich in ihren Vorstellungen die ganze Welt gegen sie verschworen hat. Einen solchen Ausbruch traut man dieser zierlichen Frau eigentlich nicht zu.
Was hat ihre Seele so zerstört, dass sie am Ende ihres Lebens solchen Qualen ausgesetzt ist?
Keiner am Tisch fühlt sich gestört durch diesen Zwischenfall. Bald kehrt auch wieder Ruhe ein. Sie wurde in denselben Zustand wie ihre Mitbewohner versetzt und ist nun in deren gleichförmigen Alltag eingebunden. Mit dem Unterschied, dass sie den Pflegern Geschichten aus ihrem Leben erzählt, da ihr sonst niemand zuhört.
Wer spricht kann überwinden, was die Seele quält.
Das malende Mädchen drückt dies in ihren Bildern aus. Ihr einziges Motiv sind bunte Blumen. Vielleicht träumt sie ja von einer fröhlichen, heilen Welt.
Die alte Frau freut sich beim Anblick dieser Bilder, die für sie auch eine heile Welt verkörpern.

Ein lauter Gong zerreißt die Stille. Das Zeichen, sich in die Schlange für die Essensausgabe einzureihen.
Folgsam stehen die unterschiedlichsten Menschen in einer Reihe, sie haben nur diesen leeren Gesichtsausdruck gemeinsam.
Die alte Frau steht immer noch an der Seite und meint:“Eigentlich habe ich keinen Hunger. Außerdem erinnern mich Menschen-Schlangen an den Krieg.“
Spontan tritt der große, junge Araber aus der Reihe und nimmt die alte, kleine Frau in den Arm. Über beide Gesichter huscht ein kurzes Lächeln, bevor sie die Eintönigkeit wieder ergreift.

Für einen kurzen Moment schien ein Stern aufgegangen, in dieser Dämmerung.

Jeder von ihnen hat die Chance auf auf ein zweites, vielleicht besseres Leben und die Möglichkeit, nach dieser Therapie nochmals ganz von vorne anzufangen.
Kein Leben verläuft gleichmäßig, bei manchen Menschen sind die Täler einfach tiefer.