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Sonntag, 31. Januar 2016

HUNGER







Wir haben Hunger nach Leben, nach Liebe, Anerkennung, Erfolg, Freiheit …
Als Idiom begegnet und dieses Wort in jedem beliebigen Zusammenhang, aber wer kennt die eigentliche Bedeutung noch? Aus unserer Generation kaum jemand.
Vielleicht noch die ganz Alten, die den Krieg miterlebt haben, aber in unserem modernen Sozialstaat lässt man niemanden verhungern und seien die Lebensumstände auch noch so schlecht.
Tatsächlich trifft man die meisten Fälle von Adipositas am untersten Ende der wirtschaftlichen Erfolgsleiter. Im Gegensatz dazu, klärte mich eine Italienerin auf: “In Italien ist eine Frau, die Geld hat schlank!“ Dieses Statement dürfte ähnlich auch für andere europäische Länder gelten.
Falls dieses Schönheitsideal nicht durch medizinische Eingriffe angestrebt wird, versucht man es durch Hungern zu erreichen. Fasten wäre in diesem Fall die exaktere Bezeichnung.
Jeder gesunde Mensch beginnt wieder mit der Nahrungsaufnahme, bevor lebensbedrohliche Umstände eintreten. Durch eine psychische Störung kann dieser Moment ausgeschaltet werden, aber im allgemeinen sieht die Umwelt dabei nicht tatenlos zu. Ich selbst kann nicht beurteilen, ob dabei ein Hungergefühl entsteht, da diese Reaktion vom Betroffenen nicht mental steuerbar ist.
Mit Diäten kenne ich mich aus, da mir während meines ganzen Lebens eine Figur vorschwebte, die ich nur zeitweise annähernd erreicht habe. Der Magen knurrt und die Gedanken kreisen nur ums Essen, aber ich tröstete mich immer, sobald die zwei Kilo geschafft sind gibt’s wieder was Leckeres.


Mit echtem Hunger, ohne Aussicht auf Nahrung musste ich mich beim Schreiben meines Romanes „WARTEN AUF LOHENGRIN“ auseinandersetzen.
Wie beschreibt man ein Gefühl, das man nicht kennt? Wie kann man nachvollziehen, welche Schmerzen ausgelöst werden, wenn sich der Körper quasi selbst auffrisst. Wenn man sich nicht der schleichenden Apathie hingibt und noch in der Lage ist, Ratten zu fangen, die sich selbst von Kadavern ernähren. Das Bild von Kindern, die ihrem Instinkt folgend Kalk von den Wänden kratzen, den sie für ihr Knochenwachstum brauchen.
Bis irgendwann das größte Tabu gebrochen wird und keine Hürde mehr besteht, die den Schritt zum Kannibalismus aufhält.
Diese schaurigen Fakten wurden so übermittelt, nachdem Leningrad 1941 durch die Belagerung deutscher Truppen die allerschlimmste Not erleiden musste.
Während 872 Tagen starben 750 000 Menschen den Hungertod.

Obwohl satt und zufrieden musste ich mich diesem Thema stellen, um meine Geschichte möglichst authentisch zu Ende zu bringen.
Schostakowitsch hat seinen Kummer über dieses Drama mit der Leningrader Sinfonie in Musik umgesetzt. Ein Requiem für alle Gequälten und Umgekommenen. Eine Totenfeier.
Beim Schreiben habe ich mich mit dieser Musik umgeben. Sie ist laut, klingt stellenweise zerrissen und die Schläge mit dem Geigenbogen auf die Saiten sollen das Klappern der Gebeine hörbar machen.

Trotz aller Bemühungen, Hunger für mich ansatzweise fühlbar zu machen, ist es nur bei einer Betrachtung von außen geblieben und ich hoffe für alle Zeiten, dieses Gefühl nie kennenlernen zu müssen.





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