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Freitag, 17. Juni 2016

DETOX





20.30 Uhr. Trotz Klimatisierung ist es schwül in der Bahn.
Der Tag fühlte sich nicht gut an und ich bin müde. Warum tue ich mir das eigentlich noch an und gehe nicht in Rente? Aber so kurz vor dem Ziel aufzugeben, wäre finanziell gesehen eine schlechte Entscheidung, außerdem würden mir auch einige Menschen aus meinem beruflichen Umfeld fehlen.

Kann der junge Mann, der sich zwei Haltestellen später neben mir niederlässt nicht still sitzen? Ich möchte jetzt gerne meine Ruhe, zudem scheint sich sein Deo zu verabschieden.

Ein paar Minuten später wird der Platz gegenüber frei und mein hibbeliger Sitznachbar schwingt sich sofort auf die andere Seite.
„Hallo!“ werde ich begrüßt und ein Paar tiefdunkle Augen strahlen mich an.
Was will der bloß von mir? Betteln oder blöd anmachen?
Einen Moment lang überlege ich, mich wegzusetzen, jedoch, ich habe keine Chance. Sofort ergießt sich ein Redeschwall über mich in lückenhaftem Deutsch, untermalt mit hektischen Gebärden. In diesem jungen Körper scheint eine Energie gebündelt zu sein, die darauf wartet, ein Ventil zu finden.

„Ich bin neunzehn und komme aus Afghanistan. Ramadan, du kennst? Ich habe heute Kopfschmerzen, sonst nie Kopfschmerzen, aber nicht essen, nicht trinken.“
Ohne Pause fährt er fort. „Wo wohnst du?“ Wenn ich die Endstation angebe, ist das nicht sonderlich konkret und auch nicht gelogen.
Er wohne in einem Container in der Peripherie. Es sei sehr schön dort. Überhaupt sei Deutschland sehr schön und strahlt dabei die ganze Zeit vor Glück wie ein kleines Kind an Weihnachten. Voller Stolz zeigt er mir seinen neuen Ausweis, der seinen Aufenthalt hier legitimiert.

Noch nie habe er eine Schule besucht, die Taliban hätten ihn daran gehindert, wie seine ganze Familie auch. Endlich dürfe er hier eine Schule besuchen.

Zwischendurch sieht er auf seinem Handy immer wieder nach der Uhrzeit, in der Hoffnung, dass es bald halb zehn Uhr anzeigt und er endlich Hunger und Durst stillen kann. Mehrfach steckt er auch die Nase in den Ausschnitt seines Shirts und verzieht dabei sein Gesicht. - Mir bleibt nicht verborgen, dass seine Ausdünstungen an Intensität zunehmen, eine Folge von Nahrungs- und Wasserentzug. - Ich bleibe trotzdem.
Für uns ist dieses Ritual des Ramadan kaum nachvollziebar, genau so wie er mit Sicherheit nicht verstehen könnte, dass es Menschen unter uns gibt, die viel Geld für eine Hunger-Kur ausgeben. Im christlichen Glauben existiert zwar auch ein Fastenmonat, aber wie viele Epochen müssen wir zurückgehen, in welcher diese innere Reinigung in einer größeren Gemeinschaft begangen wurde?

„Wie alt bist du?“ fragt er mich in seiner unerschrockenen Art.
Vierundsechzig entgegne ich wahrheitsgemäß, worauf er für einen kurzen Moment die Sprache verliert, um mir dann umgehend zu erklären, seine Großmutter sei fünfzig, hätte aber viel mehr Falten.
Das müsse wohl an unserem guten Essen liegen, sinniert er.

Mit völligem Unverständnis reagiert mein Gegenüber auf die Tatsache, dass ich nur ein Kind habe und meine Tochter noch nicht in der Lage war, mich mit einem Enkel zu beglücken. In Afghanistan seien fünfzehn Kinder eigentlich die Regel. Er selbst habe sieben Geschwister und ich bekomme Familienfotos auf dem Handy gezeigt.

Vater und Mutter sind von der Härte ihres Lebens gezeichnet und sicherlich jünger, als sie aussehen. Daneben stehen ein paar struppige Jungs.
Auf keinem Gesicht entdeckt man ein Lächeln.
Das ist meine Schwester!
Auf dem nächsten Foto sehe ich eine wunderschöne junge Frau, wie eine Prinzessin aus 1001 Nacht. Malerisch auf dem Boden sitzend hat sie ein großes Tuch in strahlendem Himmelblau locker um Kopf und Schultern gelegt. Dazu trägt sie eine Pluderhose, die nur eine Nuance im Farbton abweicht.
Ich zeige meine Begeisterung über diese Schönheit, worauf Kamra (inzwischen weiß ich seinen Namen) mir in Gebärdensprache deutlich macht, dass sie von den Taliban gezwungen wird Vollverschleierung zu tragen.

Nur noch eine halbe Stunde, bis es wieder etwas in den leeren Magen gibt.

Ob ich Arbeit für ihn wüsste, er würde auch zehn Stunden für wenig Geld arbeiten. So gerne möchte er seiner Familie etwas schicken.

Ich muss eine Station früher aussteigen und notiere mir schnell noch seine Telefonnummer auf einem Zettel. Es ist nur eine Geste und kein Versprechen, aber ich ernte einen überaus dankbaren Blick.

Einerseits bin ich froh, frische Luft atmen zu können, aber ich habe nun eine Ahnung davon, warum sich jemand auf den langen Weg von Afghanistan über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien bis nach Deutschland macht.


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