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Donnerstag, 22. Mai 2014

"Herr Doktor darf ich heiraten?"





Bücher haben etwas spirituelles. Sie besitzen eine Seele und sind gleichzeitig Zeugnis einer Epoche. Deshalb wird man sie auch nicht verkaufen oder etwa wegwerfen, falls man sie als Nachlass übertragen bekommt. Respektvoll bewahrt man diesen über Jahre und Jahrzehnte auf, sofern man über ausreichenden Platz verfügt.
So lasse ich neulich meinen Blick über vergessene Buchrücken schweifen und entdecke, eingeklemmt zwischen unterschiedlichster Literatur ein kleines Bändchen, das schon vollkommen mit Stockflecken übersät ist. Es trägt den Titel:

Herr Doktor darf ich heiraten?

Als Erscheinungsdatum wird das Jahr 1922 angegeben. Die Seiten sind ausgefranst und mussten sicherlich, wie früher oft üblich, paarweise vor dem Lesen aufgeschnitten werden.Vielleicht sollte der Inhalt nur für Erwachsene zugänglich sein.
Er handelt von Gesundheit und Moral in der Ehe, verbunden mit der Reinhaltung der Rasse, damit jeder sein persönliches Lebensglück finden kann. Ein paar Jahre später jedoch, hatte ein neues Regime die wahnhafte Vorstellung, darüber entscheiden zu müssen.

Mögen die Darlegungen bei allen, die es angeht, Beachtung und Befolgung finden. Sie sollen in wohlmeinender Absicht nur verhüten, dass Heiraten stattfinden, die allermeistens nur unglückliche Ehepaare und Kinder schaffen und dem Staate einen minderwertigen, unbrauchbaren Nachwuchs bringen würde.

Als einzig mögliche Lebensform wurde daher die Ehe angesehen, zum Zwecke der Fortpflanzung. Es gab viele Aspekte die vor einer Verbindung zu beachten waren. Vieles klingt heute befremdlich und man fühlt sich belustigt z.B. über die Unsicherheit, ob sexuelle Enthaltsamkeit vor und auch während der Ehe zu psychischen Schäden führen könne.
Mittlerweile war der Stand der Wissenschaft aber so weit, dass man davon ausging, Selbstbefriedigung beim Mann rufe keine Geistesgestörtheit hervor und sei absoluter Enthaltsamkeit vorzuziehen. Wogegen allzu häufige Selbstbefriedigung bei der Frau dazu führen könne, dass sie zu großen Gefallen daran findet und keinen Mann zum Akt mehr wünscht, der doch in erster Linie zur Fortpflanzung dienen soll.
Es folgen viele Erklärungen des „Vertrauensarztes“ , über das richtige Heiratsalter, Krankheiten, Laster und Perversion.
Unter Perversion wird auch „die sexuelle Neigung zu unreifen Kindern“ verstanden.
Dazu wäre bloß zu sagen, dass sie – obschon sicher zuweilen von bloßen verbrecherischen Wüstlingen ausgeübt- doch teils im Zusammenhang mit Altersblödsinn, progressiver Paralyse, Epilepsie und Schwachsinn vorkommt.

Männer wiederum werden vor eheuntauglichen Frauen gewarnt:
Zu den größten Krebsschäden am Marke unseres Volkes gehören die Unlust oder Unfähigkeit der Mütter zu stillen. Liegt dergleichen vor oder ist anzunehmen, dass Eitelkeit, Bequemlichkeit, Lebensgenusssucht von vornherein stärkere Triebkräfte in ihr, als Mutterpflichtgefühl sind, dann sollte sich der Mann ja überlegen, ein derartiges Geschöpf zu seiner Frau zu machen.

Als völlig überholt, obwohl einige sehr konservative Köpfe noch daran festhalten, ist die Erkenntnis anzusehen:
Vermischungen mit Angehörigen fremder Rassen kommen für die deutschen Leser so gut wie gar nicht in Betracht. Auch das Wagnis, Ehen mit Angehörigen anderer Konfessionen zu schließen, ist ganz vom Einzelfalle aus zu beurteilen.

Ein ziemlich großes Kapitel behandelt das Thema Homosexualität und es ist überraschend, wie weit man damals eigentlich der Zeit voraus war:
Über die Homosexualität, die angeborene Triebrichtung zum gleichen Geschlecht sind in der breiten Öffentlichkeit die törichsten Anschauungen im Schwange. Sie gründen sich auf den Irrtum der Wissenschaft vergangener Zeiten. Die Wissenschaft der Neuzeit hat unwiderleglich festgestellt, dass es sich dabei um eine angeborene Triebrichtung handelt. Im klassischen Altertum war sie förmlich ein maßgeblicher Bestandteil der Kultur. Man war sich der in ihr steckenden seelischen Werte wohl bewusst.
Das mittelalterliche Recht hat sich bis in die Gegenwart fortgeschleppt. Eine unzweckmäßige, weit über ein vernünftiges Ziel hinausschießende Propaganda, hat nicht günstig auf den Kampf um den berüchtigten Paragraph 175 des Reichsstrafgesetzbuches eingewirkt, der aber, analog einer vernünftigeren Auffassung in anderen Ländern, früher oder später fallen dürfte.

Der Paragraph 175 sollte noch weitere fünfzig Jahre gelten und wurde während des NS-Regimes noch verschärft.
Ledige Männer waren deshalb verdächtig und in dem Büchlein wird ihnen geraten, doch eine Ehe mit einer frigiden Frau einzugehen, damit wäre beiden geholfen. Tatsächlich wurden über viele Jahre solche „Scheinehen“ geschlossen.

Schon auf den ersten Seiten widerspricht sich der Autor und der ganze Inhalt wird quasi ad absurdum geführt, in dem Gebot der Zukunft:
Wenn die Hygiene nur das Ziel hätte, ein Volk zu den tüchtigsten im Sinne des Militarismus zu machen, wenn starke und gesunde Menschen nur hochgezüchtet werden sollen, um nicht etwa im friedlichen Wettbewerbe sondern vor allem im massenmörderischen Kriege das im Abschlachten tüchtigste zu sein, dann sieht hinter aller Hygiene das Mephistengesicht hervor, wie es in der Zeit bis 1914 geschah: Auslese für den Moloch Militarismus. Dann stehen dieselben Ärzte, im Frieden besorgt, daß der tuberkulöse Nachbar nicht über seinen Gartenzaun spuckt, in Schlächterkitteln neben dem Herrn Aushebekommissar, willig bereit, die so fürsorglich gesundheitsmäßig erzogenen Männerscharen den Schrapnells, den Gasgranaten, den Schlachtmessern, den Giftdämpfen und leiberzerwalzenden Tanks zu überantworten. Rassenhygiene, Volkshygiene, Eheverbote unter Ausschluss aller militaristischen Gesichtspunkte und des kriegsgebärenden Nationalismus neben fortdauernder Pflege pazifistischer Weltanschauung, das ist das Gebot der Zukunft für die wahren Freunde des deutschen republikanischen Volkes!

Ein Gebot, das kein Gehör fand. Wieder wurde gesundes, kräftiges Erbgut herangezogen um im nächsten Krieg abgeschlachtet zu werden.





Samstag, 3. Mai 2014

Detlef und sein Schwiegervater





„Über meen Schwiejervater da könnt ick dir Jeschichten erzähln, det gloobste nich“, berlinert Detlef. "Wat der immer für ne Scheiße baut, det is eenfach unfassbar und geizig isser noch dazu. Ick weeß jarnich, wat der mit dem janzen Jeld macht."

Tatsächlich gibt es unendlich viele Geschichten vom Schwiegervater, die er auch immer und überall preisgibt. Sei es in geselliger Runde oder während eines Vortrages über Stress, weil er der Meinung ist, er leiste damit einen wertvollen Beitrag zu diesem Thema.
Überhaupt stecken in seinem Kopf lauter vorgefertigte Ansichten, und was er nicht kennt, hat für ihn keinen Platz in seinem engen Weltbild.
„Wenn icke Bundeskanzler wär, ick würde se alle rausschmeißen, det arbeitsscheue Pack und diese Schwuchteln, die haben doch inner Politik ooch nix verloren.“

Detlef ist krank. Mit Anfang fünfzig steht er eigentlich noch mitten im Leben, aber seine Gelenke sind durch rheumatische Entzündungen stark angegriffen. Die Haut ist ebenfalls befallen und mit roten Flecken übersät. Sein Allgemeinzustand ist ziemlich schlecht, deshalb bekommt er jedes zweite Jahr eine Kur zur Rehabilitation verordnet.
Mit seiner Berliner 'Kodderschnauze' findet er schnell Kontakt, wenn er auch durch den Stress, in den er sich selbst versetzt, anfangs jedem auf die Nerven fällt. Aber sobald man die Komik, die hinter dieser Situation steckt erkannt hat, erhält das Ganze einen besonderen Unterhaltungswert.

Nach der vierwöchigen Kur hat sich sein Zustand wesentlich verbessert. Ein nicht unerheblicher Beitrag haben wohl die Menschen in seiner Umgebung geleistet, die es geschafft haben, dass er sich selbst nicht mehr allzu verkrampft sieht und ein paar seiner Sorgen nach Hause seiner Familie schicken kann. Die geht vielleicht entspannter damit um.

In zwei Jahren wir er wohl wieder eine Kur antreten und wird wieder seinen Schwiegervater im Rucksack mittragen, falls der so hochbetagt wie er ist, noch lebt. Möglicherweise wird es dann eine andere Last sein, die er mit sich schleppt.
Manchmal sind es erdrückende Gedanken, die krank machen und ein neues soziales Umfeld kann, neben der medizinischen Versorgung wesentlich zur Genesung beitragen.