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Freitag, 30. November 2018

BLACK BOX







Suchen wir die Seele, werden wir sie nicht finden, denn anatomisch gesehen, existiert sie nicht.
Im Herzen, dem man zuschreibt, der Sitz unserer Empfindungen zu sein, hat man sie auch nicht gefunden und trotzdem wissen wir, dass da etwas ist, das größer ist als wir und uns beherrscht.
Wie alles, was für uns nicht greifbar ist, wird auch sie mit Mystik überzogen.

Geht es uns gut, fließt unsere Seele wie ein Bächlein in der Sonne ruhig dahin.
Sind wir vom Glück überwältigt, bläht sie sich auf wie ein Luftballon als wolle sie den Körper sprengen.
Manchmal aber leidet sie und schmerzt, wenn sie getreten, misshandelt und verletzt wird. Es bleiben dann Narben und Wunden, die nicht heilen.

Die Seele ist unsere Black Box, in der unser ganzes Leben gespeichert ist. Wenn die Hülle zerfällt, ist sie alles, was bleibt. Stirbt ein Mensch, öffnet man das Fenster und entlässt sie ins Universum, damit sie sich einen Platz in der Ewigkeit suchen kann.
Jedes mal, wenn sich ein lebender Mensch an solch eine alte Seele erinnert, kommt sie für einen kurzen Moment zum Leuchten.




Sonntag, 4. März 2018

CIAO BELLA !





Mit beginnendem Wohlstand keimte nach entbehrungsreichen Zeiten die Sehnsucht nach fremden Ländern in der deutschen Seele. Als erstes folgte man unserem geschätzten und bedeutenden Reiseführer Goethe in das Land, wo die Zitronen blühen – nach Italien.
So packten auch meine Eltern 1962 die kleine Schwester und mich in unseren roten Borgward, und fuhren zu neuen Ufern mit Ziel Alassio an der Riviera. Zwar hatten wir ein Hotel mit Vollpension am Strand gebucht, aber weil man der fremden Küche etwas skeptisch gegenüberstand, nahm man außer leichter Sommerkleidung vorsichtshalber noch Schinkenwurst in Dosen aus der Region und Nescafé in Pulverform mit.
Nach der Überquerung der Schweizer Alpen, öffnete sich vor uns ein quasi neuer Kontinent.
„Die Italiener können halt Straßen bauen“, bemerkte meine Papa, als Bauingenieur und somit Fachmann voller Bewunderung.
Tatsächlich lag vor uns der Asphalt wie schwarzer Samt und unser Auto glitt dahin, dass die Stoßdämpfer arbeitslos wurden. Gut, diese Straßen waren alle neu, wogegen unsere rumpelnden Betonpisten auf tausend Jahre ausgelegt waren.

Mit meinen zehn Jahren saugte ich all die fremden Eindrücke begierig auf.
Überall flitzen junge Männer auf ihren Vespas durch die engen Straßen und umkurvten laut hupend winzige Autos und schicke Cabriolets. Quer auf dem Sozius saßen Signorinas und ihr ausladender Petticoat bauschte sich im Fahrtwind. Aus den Koffer Radios drang Musik zum Dahinschmelzen. Rocco Granata besang voller Inbrunst seine Marina und der wilde Rotschopf Rita Pavone forderte zum Twist auf.
Über allem schwebte ein Hauch von Amore und die Sonne beschien die lärmende Fröhlichkeit.
Ich konnte es kaum erwarten, siebzehn zu werden, um an diesem Leben voller Leichtigkeit teilzuhaben.

Neugierig machten mich auch diese fremden Gerüche, die überall in der Luft lagen. In einigen Gassen konnte man Essen direkt von der Straße aus kaufen. (Bei uns musste man immer durch eine Tür den Laden betreten.) Dort lagen Tomaten auf warmem Hefeteig, was herrlich duftete. Bisher kannte ich nur süße Kuchen, deshalb fragte ich meine Mutter nach dem Namen dieses Gebäcks.
„Das ist ein Tomatenkuchen, aber das schmeckt uns nicht.“
Die erste Pizza meines Lebens durfte ich nicht probieren.
Auch im Hotel gab es Neues zu entdecken. Eierfrüchte zum Beispiel, ein Gemüse, das es mir angetan hatte. Später lernte ich es als Auberginen kennen, das aber keinen Einzug in unserer heimatlichen Küche fand. Dann gab es noch diese langen Spagetti (für uns ohne „h“). Zu ihrer besseren Handhabung aßen wir mit Messer und Gabel.
Im Gegensatz zu meinen Eltern vermisste ich die deutsche Küche nicht. Trotzdem besuchten wir drei Jahre in Folge dieses wunderbare Land.

Die nächsten Urlaube verbrachten wir in Österreich und meine Träume nahmen somit ein jähes Ende. Außerdem entwickelte ich mich zu einem pummeligen Teenager, der auf einer Vespa nie die Grandezza einer Italienerin ausgestrahlt hätte.

Italien kam zu uns. In Gestalt von jämmerlichen, dürren Gestalten, ohne Lebenslust und Eleganz, wie ich es an der Riviera erlebt hatte. Sie sollten uns ebensolche wunderbaren Straßen bauen, wie sie es in ihrem Land bereits vorgemacht hatten. Auch in anderen Bereichen gab es viel Arbeit, aber zu wenig Menschen.
Man gab ihnen Notunterkünfte, wo mehrere Männer zusammen in einem Zimmer mit Minimalausstattung hausten, weil ihr Aufenthalt ja nur vorübergehend sein sollte. Was sie aber am meisten neben ihren zurückgelassenen Familien vermissten, war die heimische Küche.
Auf ihrer langen Reise von Sizilien und Calabrien transportierten sie später in ihren alten Koffern und Pappkartons die geliebte Pasta und es entstand ein neuer Geschäftszweig. Einige machten sich es bald zur Aufgabe, sich um ihre kulinarisch unterversorgten Landsleute zu kümmern.
Es entstanden kleine Lokale mit einfachen Holztischen und Stühlen. Zur Ausstattung gehörte als wichtigstes Element eine gigantische, silbrig glänzende und gefährlich fauchende Kaffeemaschine, auf die laufend eingeschlagen wurde. Man traf sich auf einen Espresso und palaverte stundenlang lautstark. Es war ein Stück Heimat in einer fremden, kalten Welt.

Unter der Brücke, die ich ständig zu überqueren hatte, gab es eine Baustelle. Dort arbeiteten diese jungen, schwarzhaarigen Männer, die im Sommer ihre nackten, braungebrannten Oberkörper zeigten. Ein Konzert von anerkennenden Pfiffen und den Rufen „Bella Signorina!“ begleiteten mein Defilé regelmäßig.
Bisher fand ich als kleiner Pummel keinerlei Beachtung, aber diese Männer weckten die Weiblichkeit in mir.
In meinem zarten Alter, ohne diesbezügliche Erfahrung, fühlte ich mich ihren Blicken ausgeliefert, deshalb versuchte ich, diesem Konzert so schnell wie möglich zu entkommen. Sobald ich allerdings diesen gefährlichen Ort hinter mir gelassen hatte, begann ich diese Bewunderung zu genießen und weihte meine Freundin mit unterdrücktem Stolz in meinen neuen Erfahrungsschatz ein. Meinen Eltern jedoch wollte ich mich nicht anvertrauen, sie hätten nur Unheil gewittert.
Alle Mädchen wurden vor diesen „Spaghettifressern und Messerstechern“ gewarnt, sie galten als suspekt und gefährlich.
Manche aber erlagen dem südländischen Charme, was meist zu häuslichen Dramen führte.

Durch harte Arbeit und äußerste Sparsamkeit brachten es viele bald zu einem gemäßigten Wohlstand und einer ordentlichen Wohnung. Die Familien kamen nach und trotz Heimweh, zog es niemanden zurück in den armen Süden.
Alles, was wir am italienischen Lebensstil so lieben, wurde kopiert. Dafür gaben wir gerne einen Teil unserer Identität auf. Spaghetti lernten wir richtig zu schreiben und mit der Gabel zu drehen, und Pizza wurde auch zu unserem Nationalgericht erklärt.

Unsere Gesellschaft befindet sich in ständigem Wandel und jede Generation gestaltet sie neu.
Wer über einen längeren Zeitraum zurückblicken kann, entdeckt bei genauem Hinsehen Gesetzmäßigkeiten.
Auch heute reisen wir in fremden Länder und wissen oft nichts über deren Bewohner, weil man das Hässliche einfach ausblendet.



Sonntag, 21. Januar 2018

VOM ZERSTÖREN UND BEWAHREN






Der Januar legt sich voller Schwermut auf Natur und Menschen. Alles verschwindet im Einheitsgrau, durchbrochen von Regen, Schnee und Orkan Friederike. Mit einer ungeheuren Zerstörungswut fegt er übers Land. Er reißt Bäume, samt Wurzeln aus der Erde und schwere Lastzüge werden umgeworfen, als wären sie Spielzeug.
Wer nicht muss,vergräbt sich in seinen vier Wänden und ergibt sich seiner Melancholie.

Mein Pflichtgefühl sagt mir, ich müsse zur Geburtstags-Gratulation antreten, aber kann ich mich so verleugnen, Menschen zu begegnen, die mit kaltem Herzen die Vergangenheit ausradieren? Es kann doch nichts gedeihen, wenn man die Wurzeln kappt.
Meine Zeit ist mir allmählich zu kostbar, um sie mit den falschen Menschen zu verbringen, deshalb folge ich spontan der Einladung von Wilhelm, ihn und seine Frau in seinem alten Bauernhaus zu besuchen, das er mit viel Liebe und Arbeit zu neuem Leben erweckt hat.
Als ob die alten Balken und die tausend Gegenstände, die gesammelt und in ihrer Ursprünglichkeit bewahrt wurden ihre Geschichten erzählen müssten, hat man das Gefühl, dass hier alles lebt und ihre Stimmen beinahe zu hören sind. In jedem, der vielen Räume, die alle ihren eigenen Charakter besitzen türmen sich Bücher in Regalen bis unter die Decke.
Nicht nur der Ofen aus alten, gesammelten Schamotte-Steinen, sondern auch die Menschen in diesem Haus strahlen eine wohlige Wärme aus, während draußen Friederike tobt.

Zur gleichen Zeit wird ein Kind geboren, das denselben Namen wie meine Tochter bekommen soll. Ist dies nicht ein Beweis, eine Freundschaft auf ganz besondere Weise bewahren zu wollen? Einen Namen verbindet man immer mit einer Person, die dahintersteht und niemand möchte sein Kind mit einer schlechten Assoziation belegen.

Es ist nicht die Lösung unserer Probleme,in der Vergangenheit zu verharren, aber es erdet und lässt Stürme überstehen. Für ein paar Tage gefangen in dieser Stimmung, brauche ich auch etwas bodenständiges in den Magen. Mir ist nach Bratkartoffeln mit Spiegelei in einem historischen Gasthaus,die mir an einem Tisch neben einem alten Backofen serviert werden. Trotz Warnung traue ich mich aus dem Haus, es ist aber nur eine kurze Distanz zu überwinden.

Bald werden uns die ersten Sonnenstrahlen aus unserer Grauzone reißen. Dann begegnen wir den Tagen auch wieder mit mehr Leichtigkeit.



Sonntag, 7. Januar 2018

DIE FRAU UND IHR FRISEUR







Mit Preisen schon in jungen Jahren hochdekoriert, eröffnete Friseurmeister Heinz einen Salon für Damen und Herren. Während der Hippie-Bewegung, Anfang der 70er bedurfte es dazu einer großen Portion Optimismus, denn man gestand den Haaren beiderlei Geschlechts dieselbe Freiheit zu, für die wir damals kämpften. Alles sprießte unkontrolliert vor sich hin und ein gepflegter Haarschnitt entlarvte den Spießer.

Irgendwann entdecke ich, an meiner bis zur Taille reichenden Mähne weiße Spitzen – Spliss. Um den Rest zu retten, betrete ich nach ein paar Jahren Abstinenz eben diesen Salon.
Wirklich nur die kaputten Spitzen sollen abgeschnitten werden, also nicht mehr als ein halber Zentimeter. Zu meiner Beruhigung wird mir erklärt, es gäbe eine bessere Methode, als zu schneiden – man brennt die kaputten Spitzen ab.
In einer langwierigen Sitzung wird von einer jungen Friseurin Strähne für Strähne abgeteilt und eng gedreht. Die abstehenden Haarenden brennt man mittels einer Kerze ab. Sie versteht ihr Handwerk, aber vielleicht fraß sich die Flamme bei einer Kundin unkontrolliert weiter. Jedenfalls wird diese Methode heute nicht mehr angewandt.

Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Mode. Allmählich legt man wieder Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Angesagt sind nun wallende Mähnen mit geföhnter Außenwelle, nach dem Vorbild von Farrah Fawcett, einem der Engel für Charlie.
„Ohne Dauerwelle hält das bei dir nicht“, holt man mich umgehend in die Realität zurück. Aber so schnell gebe ich nicht auf und lasse mich zu einer 'leichten' Dauerwelle überreden. Die ist allerdings noch nicht erfunden und das Ergebnis entsprechend schrecklich. Statt großzügiger Wellen kringeln sich auf dem ganzen Kopf lauter Schmalzlocken.
Kurz zuvor lernte ich meinen zukünftigen Ehemann kennen und befürchte, bei diesem Anblick könne er das Weite suchen. Also, weg mit den Locken und hin zu einer schulterlangen Fönfrisur mit Innenrolle! - Ein Klassiker, der noch heute die Köpfe von Mireille Mathieu und einem deutschen Schlagersänger ziert.
So klappt es dann auch mit der Hochzeit.

„Es gibt jetzt eine ganz neue, schonende Dauerwelle. Man lässt hinterher die Haare nur noch an der Luft trocknen, ohne Föhn und Wickler“, macht mir Heinz diese neue Technik schmackhaft. Immer offen für Neues, lasse ich mich überreden und nicht nur ich bin vom Ergebnis begeistert.
„Beim Stadtfest wird auf dem Marktplatz ein Podest aufgestellt, auf dem ich die neuen Frisuren präsentiere, dabei möchte ich diese neue Dauerwelle vorstellen. Machst du mit?“
Als introvertierte, junge Frau und voller Selbstzweifel, denke ich sofort an Flucht.
„Du musst nur auf einem Stuhl sitzen, während ich dich frisiere. Danach stehst du auf und drehst dich einmal. Das ist alles!“
Mein Widerstand schwindet langsam und allmählich bin ich bereit, mich der Herausforderung zu stellen.

Etwas unsicher steige ich die Stufen zum Podest hoch und stelle gleichzeitig entsetzt fest, was die Ehe aus mir gemacht hat. Früher trug ich die verrücktesten Klamotten und die kürzesten Röcke und jetzt … Rock und Bluse!
Alles wird unter einem Umhang versteckt und die Blicke des Publikums saugen sich an mir fest.
Bald ist alles vorbei und ich überstehe diese Zurschaustellung ohne seelischen Schaden . Der warme Applaus macht mich sogar ein bisschen stolz.

Am selben Abend noch, lädt mich Heinz ein, drei Wochen später bei einer Schulung in Karlsruhe zusammen mit ein paar anderen jungen Frauen Modell zu sitzen. Ein Kosmetikkonzern organisiert diese Veranstaltung. Wir bekommen dafür sogar ein Outfit gestellt, um ein einheitliches Bild zu präsentieren. Der Sorge, wie ich meinen Hausfrauen-Look loswerde, bin ich also enthoben.
Die Anzahl der Plätze in den Schulungsräumen ist begrenzt, außerdem ist diese Veranstaltung nur für ein geladenes Fachpublikum. Interessiert wird verfolgt, welches hervorragende Ergebnis man mit der neuen Dauerwelle, oder den Colorationen dieser Firma erzielt.

Es folgen noch viele Veranstaltungen. Meistens vor Fachpublikum in kleinen Städten mit kleinen Veranstaltungsräumen, oder in großen Städten, wie Frankfurt oder Düsseldorf vor großem Publikum. Kreuz und quer ziehen wir als geschlossene Truppe, mit mehreren Frisuren-Modellen durch Süddeutschland. Dabei wird viel gelacht, weil Heinz immer einen Witz oder flotten Spruch auf Lager hat und es entstehen Freundschaften über viele Jahre.
Ich verfüge über einen schnell nachwachsenden Rohstoff, wohl deshalb werde ich in kurzen Abständen immer öfter engagiert und zudem weicht meine rote Naturhaarfarbe vom beliebten Blond ab. Heinz schätzt außerdem, dass ich ein ordentliches Maß an Geduld mitbringe, ohne zu zicken oder in Tränen auszubrechen, wenn ich einen ausgefallenen, modischen Haarschnitt verpasst bekomme.
Ich lerne bald, wie man sich professionell auf einem Laufsteg bewegt (lange, bevor 'unsere' Heidi dies der Nation zeigt). Richtige Shows mit Tanzeinlagen werden einstudiert. (Meine jahrelange Tanzausbildung erweist sich so doch noch als sinnvolle Investition.) Das Publikum ist begeistert, obwohl mit einigem Abstand betrachtet, wirkt die Darbietung eher etwas selbstgestrickt. Die Frisuren dagegen, zeugen von hoher Professionalität und Heinz ist nicht nur ein Meister an der Schere, sondern versteht es auch, Menschen zu unterhalten.
Zwei Stunden dauert es, um mit vier Händen einem Mädchen die vielen Zöpfchen zu flechten, mit denen Bo Derek in die Filmgeschichte eingeht. Im großen Saal der Stuttgarter Liederhalle wird dieses Werk auch gebührend beklatscht.
Im Gegensatz zu vielen Menschen, habe ich das Fernsehen nie gesucht – es hat mich gefunden. Im Frühjahr und im Herbst werden wir fürs Regionalprogramm gefilmt, um die aktuellen Trends zu zeigen. Abends wartet man gespannt vor dem Fernseher, wie viele Schnipsel von einem Drehtag übrig geblieben sind.

Die Selbstzweifel bleiben, aber ich lerne sie zu verdrängen. Das Leben ist leicht und trotz Job und Familie vergehen dreizehn Jahre als eine einzige Party.

Mit Ende dreißig ist der Zenit eigentlich längst überschritten. Unsere feste Truppe gleichaltriger Modelle löst sich nach und nach auf. Man kommt sich auch irgendwie albern vor, wenn die nachrückenden Mädchen zwanzig Jahre jünger sind als man selbst.
Zum Abschluss gibt es aber noch ein besonderes Highlight. Kurz nach der Maueröffnung organisiert der Kosmetikkonzern, für den wir werben zusammen mit der Innung Veranstaltungen in Leipzig, Chemnitz und Dresden. Die Segnungen des Kapitalismus sollen nun auch den Osten beglücken.
Es ist ein großartiges Gefühl, mit weit geöffneten Armen, von einem hungrigen Publikum empfangen zu werden, das sich für unser berechnendes Marketing noch sehr aufgeschlossen zeigt.
Trotz des etwas unguten Gefühls, das mich beschleicht, ist es ein unvergessliches Erlebnis.


Die Party ist vorbei und das Leben belädt mich mit einem Rucksack, den das Schicksal nach und nach befüllt. Auch Heinz muss ein paar Schläge einstecken. - Nichts ist mehr so leicht, wie es einmal war.
Das Gewicht meines Rucksacks nimmt über die Jahre zu und manchmal wird diese Last so schwer, dass man meint, sie nicht mehr alleine tragen zu können. Ein Therapeut würde allein fürs Zuhören Geld verlangen. Ich habe meinen Friseur. Er hört mir zu. Freiwillig und nicht nur, weil ich ihm ausgeliefert bin. Umsonst ist dies auch nicht, aber als Dreingabe gibt es eine neue Frisur, was in jeder Krise ohnehin hilfreich wirkt.
Eine Frau und ihr Friseur, dies ist vielleicht die intimste Verbindung, die es gibt. Niemand sonst kennt die Sorgen und Nöte seiner Kundinnen so gut wie er.


Mittlerweile hat Heinz das Rentenalter längst überschritten. Ans Aufhören dachte er auch für kurze Zeit, aber jemand, der sein ganzes Leben für seine Arbeit brennt, ohne jemals Urlaub zu machen tut sich schwer mit solch einer Entscheidung. Es blieb vorläufig beim Kürzertreten, nur ist sein Terminbuch immer noch so gefüllt, dass auch dies nicht zur Durchführung kam. Zudem verlangen verschiedene Ämter bei Innung und Verbänden, sowie Schulungen und Lehrlingsausbildung immer noch seinen Einsatz.

Manche Menschen begleiten uns durchs ganze Leben und werden dabei so selbstverständlich, dass man nicht bemerkt, wie unersetzlich sie geworden sind.
Deshalb setze ich meinem Figaro hiermit ein kleines Denkmal, als besonderen Dank.





Dienstag, 5. Dezember 2017

EIN WINTERMÄRCHEN







Die Landschaft wirkt wie verzaubert. Anfang Dezember 1958 ist sie schon mit einer dicken Schneedecke überzogen.

„Nachher fahre ich auf die Alb, Lucie. Ich nehm' dich mit, aber zieh dich warm an, es ist sehr kalt draußen!“
Die fünfjährige Lucie steht schon kurz darauf in Mantel, Schal und Mütze da, gespannt auf den Ausflug mit ihrem Papa.
„Vergiss nicht, deinen Wunschzettel mitzunehmen! Unterwegs halten wir am Nikolaus-Häuschen und danach besuchen wir Hänsel und Gretel!“

Papa kennt die schönsten Märchen und heute soll sie eines in Wirklichkeit erleben!
„Der Nikolaus ist doch so ein armer, alter Mann, und immer muss er frieren in seiner Hütte. - Weißt du was, wir legen ihm zusammen mit deinem Wunschzettel ein paar warme Socken und ein Butterbrot ans Fenster!“
Lucie kann es kaum erwarten, bis es endlich losgeht.



Im letzten Jahr, ist sie dem Nikolaus zum ersten Mal begegnet, als er sie zuhause, mit einem großen Sack voller Geschenke besucht hat .
Mit einem Glöckchen klingelte er an der Haustüre, um eingelassen zu werden. Mama öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer, wo er in einem tiefen Sessel Platz nehmen durfte.
An den alten Mann mit dem langen, zottigen Bart kann sich Lucie noch sehr gut erinnern.
Ein wenig unheimlich war ihr diese seltsame Gestalt, die mit der roten Nase und den roten Backen ganz verfroren aussah. Obwohl zwischen dem ausladenden Bart vom Gesicht kaum etwas zu erkennen war.
Sein Mantel schien ziemlich abgewetzt und wurde nur mit einer Schnur um den Bauch zusammengehalten. Auf dem Kopf trug er eine weiße Mütze, die aussah, wie eine Haube aus Schnee, und um die Schuhe hatte er sich Lumpen gewickelt.


Durch den verschneiten Wald fahren sie mit dem Auto die Steige hoch. Die Schneeberge rechts und links der Fahrbahn werden immer größer, je höher sie kommen. Auf halben Weg erreichen sie endlich das Nikolaus-Häuschen.
Es ist ein winziges Holzhaus, mit einer niedrigen Tür und einem kleinen Fenster. Daneben ist ein Schuppen angebaut, nur halb so hoch, wie das Häuschen.
Es ist ganz still im Wald. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Papa klopft an die Türe, aber drinnen regt sich nichts. Lucie ist schrecklich aufgeregt und ein bisschen ängstlich, dass der Nikolaus plötzlich die Türe aufmachen und vor ihr stehen könnte. Aber er scheint unterwegs zu sein.
„Vielleicht ist er dabei, Geschenke an Kinder zu verteilen“, wird sie von Papa getröstet.

Ganz leise und andächtig legt Lucie ihren Wunschzettel, das in Papier eingewickelte Butterbrot und ein Paar warme Socken, die Papa nicht mehr braucht am Fensterbrett ab.
„Vielleicht hat er seinen Schlitten dagelassen. Sehen wir mal nach!“ und tatsächlich steht im Schuppen ein Holzschlitten.
„Sicherlich holt er seine Rehe, um sie vor den Schlitten zu spannen. Gehen wir lieber, bevor er zurückkommt!“

Weiter geht es auf die Alb-Hochfläche zu Hänsel und Gretel.
Zur großen Erleichterung von Lucie sind es nicht die Geschwister, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt wurden. Auch eine Hexe sieht man nirgendwo.
Hans und Grete sind die Kinder der Wirtsleute in einem Gasthaus. Es gibt dort Würstchen mit Brot und während Lucie nach diesem aufregenden Tag mit großem Appetit isst, erzählt sie Hans und Grete, wie sie den Nikolaus besuchen wollte. Gesättigt spielen alle drei Kinder ausgelassen rund um die Tische Fangen. Wochentags sind kaum Leute in der Wirtsstube, deshalb stört es niemanden, wenn die Kinder fröhlich herumtoben.

Draußen ist schon tiefe Nacht, als Lucie und ihr Papa den Heimweg antreten. Mit dem Auto geht es jetzt die Steige abwärts.
„Guck mal Lucie, am Straßenrand stehen lauter kleine Wichtel mit ihren Laternen und zeigen uns den Weg, damit wir uns nicht im Wald verirren!“
Lucie fühlt sich behütet, von ihrem Papa, dem Nikolaus und den kleinen Wichteln. Glücklich und zufrieden lehnt sie sich zurück und sieht durchs Fenster in den verschneiten Wald.

Nicht lange wird es dauern, bis sie entdeckt, dass die Wichtel einfache Leuchtpfosten am Straßenrand waren, und das Nikolaus-Häuschen der Straßenwacht gehört. Zufällig stand ein Schlitten darin, und vielleicht hat sich ein Straßenwärter über die Socken und das Butterbrot gefreut.
Den Nikolaus hat ihr Papa, bekleidet mit einem alten Wehrmachts-Mantel gespielt, noch bevor die bunte Welt von Coca-Cola Einzug hielt.
Kinder brauchen eine Welt der Märchen und der Mystik, in der sie sich von guten Wesen beschützt fühlen.
Der Zauber hält ein Leben lang, auch wenn die schützende Hand nicht mehr da ist und man sich wie Aschenputtel mit einer Schale Erbsen in einer Ecke wiederfindet. Dann hofft man auf die gute Fee oder eine Schar Tauben, die den Weg ins Glück zeigen.



Sonntag, 16. Juli 2017

RUHESTAND







Er sei wohlverdient,der Ruhestand, hört man oft, was auf ein langes Arbeitsleben im Hamsterrad der Geldmaschinerie durchaus zutrifft.
Teilweise wird auch die Zeit bis zur Rente oder Pensionierung auf dem zwangsläufig immer breiter werdenden Hintern einfach nur abgesessen.

Aber wie gestaltet man die neu erworbene Freiheit?
Den Traum vom Reisen um den Globus, können sich gesundheitlich und finanziell nur wenige erlauben, deshalb sieht man als Alternative überall Rentner in gedecktem Beige stöckelnd die nähere Umgebung erkunden.

Für mich kam dieser Lebensabschnitt etwas früher, als ursprünglich geplant, weshalb ich diesbezüglich auch keine großen Pläne geschmiedet habe.
Vorerst genieße ich es noch, mir die Tage nach Lust und Laune einteilen zu können. Zwar habe ich mir eine gewisse Struktur auferlegt, aber falls ich morgens doch mal länger schlafen sollte, meckert nur mein Fitness-Tracker: „Sie sind heute nicht sehr aktiv!“
Bewegung entfernt den Rost aus den Gelenken. Mit diesem Wissen werde ich normalerweise selbst aktiv. Ansonsten können alle Hähne so lange krähen, wie sie wollen, ich werde nirgendwo erwartet.

Nach nur einem halben Jahr, verspüre ich allerdings eine geistige und kreative Verstopfung. Diese Unterforderung versuche ich mit Lesen auszugleichen.
Zugegeben, dies ist ein Luxusproblem, wenn ich sehe, wie sich andere schinden: Ein 69jähriger saniert noch kniend Flachdächer, oder ganz Alte mit leichter Gehbehinderung tragen sonntags Zeitungen und Prospekte aus. Mühsam ziehen sie den Wagen der Verteilerfirma hinter sich her, wo früher Schüler auf ihren Inlinern durch die Gegend flitzten, um ihr Taschengeld aufzubessern.

Die Möglichkeit, farblose Klamotten farblosen Menschen zu verkaufen, ist für mich keine Option. Die Gefahr, in eine Depression zu verfallen ist nicht auszuschließen.
Alternativ drängt sich das Internet mit Jobs unter dem Slogan „Verkaufe Produkte von zu Hause!“ richtiggehend auf. Wo früher in Heimarbeit Kugelschreiber zusammengeschraubt wurden, vertreibt man heute Waren anspruchsvoller über Social Media.
Man stelle sich vor, wie ich mich bisher mit meinen Facebook-Freunden über soziale Themen unterhalten habe und plötzliche versuche ich sie davon zu überzeugen, dass ihr Glück von einem bestimmten Nagellack abhängt.
Statt einer Provision hätte ich sehr schnell weniger Kontakte.

Wer uns als Zielgruppe mit zunehmendem Interesse verfolgt, ist die Werbung. Aufgewachsen mit Frau Clementine und HB-Männchen, werden wir durch die neue Werbeflut eher immunisiert, als zum Kauf angeregt. Deshalb locken verschiedene Institute mit gezielten Meinungsumfragen, die mit kleinen Geschenken honoriert werden, um herauszufinden, mit welchen Mitteln man uns doch noch um unser Erspartes bringen kann.

Eine geistige Herausforderung wäre ein Trend, der momentan ein begeistertes Publikum findet: Die Autobiographie. - Eine Art Big Brother für Intellektuelle.
Besteht wirklich ein Interesse an solch einer seelischen Diarrhoe?
Soll ich tatsächlich nochmals in alle Niederungen hinabsteigen und sie ein zweites Mal durchleben?
Vielleicht wäre es besser, die Vergangenheit zu einem Bündel zu verknoten und anzuzünden.

Morgen mach' ich mir weitere Gedanken.
Jetzt mit einem Cocktail im Liegestuhl zu sitzen und die Seele baumeln zu lassen, kann nicht schaden. Morgen ist auch noch ein Tag.




Freitag, 9. Juni 2017

WolfsMensch






In nächtlichen Streifzügen, auf der Suche nach Isolation, der misanthropische Wolf.
Von roher Natur und in unbezähmbarar Wildheit, lebt er in seiner dunklen Welt.

Sympathisch, feingeistig und sensibel, dazu sentimental ewig in der Jugend verhaftet,
der Mensch, das andere Ich.

Zwei Seelen, vereint in einem Körper.
Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde in fortwährendem Kampf.
Der hassende Wolf und die empfindsame Menschenseele.

Ein leidendes Wesen, am Leben ermüdet.