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Sonntag, 2. November 2014

Unfrisierte Erinnerungen





In ganz Deutschland herrscht Goldgräberstimmung.
Kurz nach dem Fall der Mauer, im April 1990 sucht beinahe jeder sein Glück im anderen Teil der Republik. In Ostdeutschland ist man auf der Suche nach Jobs und westdeutsche Firmen erhoffen sich einen riesigen Markt im Osten.
So auch eine große Kosmetikfirma, die dort ihren Bekanntheitsgrad ausdehnen will. Zur Vermarktung ihrer Haarpflege-Produkte engagiert sie den süddeutschen Friseurverband.
Mein Friseur Heinz ist natürlich auch mit von der Partie, da er sich schon durch diverse Preise einen Namen erworben hat. Ich habe mich für ihn schon des öfteren als Frisuren-Model zur Verfügung gestellt, deshalb werde ich gleich mit engagiert.

Frühmorgens erwartet uns ein super moderner Luxusbus, bereits besetzt mit wichtigen Leuten aus dem Management der Innung und der Kosmetikfirma, ein paar Jungfriseuren und noch mehr Models.
Etwas schläfrig, und von der Bus-Disco berieselt fahren wir gen Osten.
Erst als sich die Landschaft in ein sattes Grau verwandelt, bemerke ich, dass wir den Westen verlassen haben. Bald ragen aus dieser Ödnis überraschend weiße Flaggen mit roter Aufschrift. - „Toyota“ war schon vor uns da und je näher wir Leipzig kommen, desto mehr Autofirmen begegnen uns. Bei der bislang chronischen Unterversorgung, erhoffen sie sich einen riesigen Boom.
Unser Bus scheint ungewöhnliche Aufmerksamkeit zu erregen. Als wären wir Pop-Stars, stehen Menschen am Straßenrand und winken uns zu. Das Gefühl, so freundlich empfangen zu werden, ist einerseits überwältigend, andererseits einigermaßen irritierend. Womit haben wir uns das verdient? Heißt man uns als Gäste willkommen, oder als Botschafter der lang ersehnten Kulturgüter?
Auf dem Weg zu unserem Auftrittsort fahren wir durch die Innenstadt von Leipzig. Mit ihren alten Gebäuden wirkt sie sehr beeindruckend. Wenn nur nicht alles von diesem Grau überzogen wäre, hervorgerufen durch den Ausstoß der Braunkohle-Heizungen.
Noch ist auf den Gehwegen vor einigen Kellerfenstern Braunkohle aufgehäuft und wartet darauf, in die Keller befördert zu werden.

Bevor wir der Stadt etwas bieten, werden wir zum Essen eingeladen. In ein großes Speiselokal in dem zu seiner Zeit Staatssekretär Honecker bei seinen Besuchen zu dinieren pflegte. Das Lokal besitzt die nüchterne Atmosphäre einer Bahnhofshalle, ist aber durch unzählige kleine Lampen an der Decke hell erleuchtet. Die Kellner, an den Umgang mit prominenten Gästen gewöhnt, sind flink, devot und zu keinem Lächeln bereit.
So verwöhnt, brechen wir auf, um in einem Rundbau in der Innenstadt das Abendprogramm zu gestalten. Bei unserem Eintreffen sind alle noch mit den Vorbereitungen beschäftigt.
Bevor sich der Saal füllt, wird noch eifrig geputzt.
Das Interesse ist überwältigend. Der Saal ist bald bis zum letzten Platz besetzt.
Heiz beginnt die Schere zu schwingen. Haare fliegen während er erklärt und seine kleinen Anekdoten und Witze erzählt. Der Föhn summt, es wird toupiert und zuletzt verschwindet die ganze Pracht in einem Nebel von Haarspray. Ich präsentiere das Kunstwerk auf der Bühne von allen Seiten. Die anderen Models gesellen sich mit ihren Kreationen dazu und das Publikum applaudiert mit großer Begeisterung.
Der größte Teil des Abends wäre somit bestritten. Ganz zum Schluss ist noch ein „Lambada“, von uns getanzt vorgesehen, auf besonderen Wunsch von ein oder zwei reiferen Herren vom Management. Aber zuvor steht noch eine musikalische Einlage von Musikern des Gewandhaus-Orchesters auf dem Programm.
Man stelle sich vor, da kommen ein paar Friseure mit ihren Modellen aus der Provinz und treten zusammen mit dem weltberühmten Gewandhaus-Orchester auf!
Bei den Klängen einer Komposition von Bach herrscht andächtige Stille. Wir sind überwältigt. Erfüllt von diesem wunderbaren Konzert möchte man im Anschluss nur nach Hause gehen und den Nachhall genießen.
LAMBADAAAA !!!
In unseren pinkfarbenen Röckchen und den knappen Oberteilen sind wir an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Jeder von uns spürt dies, aber da die Organisatoren es sich so wünschen, muss die Show weitergehen. Vielleicht hält man uns nun im Osten für Banausen ohne Kunstverstand.

Nach unserem unrühmlichen Abgang in Leipzig wird alles schnell zusammengepackt und im Bus verstaut, da wir noch am selben Abend weiterfahren. Nach Karl-Marx-Stadt oder Chemnitz, so genau weiß man das noch nicht. Die Entscheidung über den neuen, endgültigen Städtenamen steht noch aus.
Gegen Mitternacht kommen wir dort an, um im besten Hotel der Stadt zu übernachten. Auf dem Platz davor prangt ein monumentaler Kopf von Karl Marx, der mit versteinerter Miene geradeaus blickt, was höchstwahrscheinlich am Material liegt, aus dem er geschaffen ist.
Wie Johannes der Täufer nach der Enthauptung thront dieser Kopf auf einem Sockel. War nur sein Kopf von Bedeutung? Das Herz und was sonst noch eine Menschen ausmacht, ist zu vernachlässigen? Ich bin zu müde, um mir weitere Gedanken darüber zu machen.
Das Zimmer, welches ich mir mit einem anderen Model teile, erinnert mich an ein Kinder- oder Jugendzimmer. Die zwei Betten aus Pressspan stehen hintereinander und haben einen Umbau mit verschiedenen Fächern.
So schnell wie möglich ins Bett! Nur noch Waschen und Zähneputzen.
Das Bad! - In einem 1. Klasse Hotel hätte ich niemals erwartet, solch ein Bad vorzufinden.
Eine schwarz gekachelte Höhle, unterbrochen von komplett anders gestalteten Fliesen. Es wurde wohl eingebaut, was gerade aufzutreiben war.
Am Wasserhahn über dem Waschbecken hängt ein kleiner orangefarbener Gummischlauch. Zuletzt sah ich das bei meiner Großmutter auf dem Bauernhof über dem Spülstein.
Beim Blick in die Dusche, eröffnet sich mir eine fremde Welt. Die Mulde will man nicht unbedingt mit bloßen Füßen betreten und beim Blick nach oben, in Richtung des Duschkopfes, ragen von der Decke lange, schwarze Schlieren wie die Stalagmiten einer Tropfsteinhöhle.
Da stellt sich nun die Frage: Was ist hygienischer, sich in diese Tropfsteinhöhle zu stellen, oder ausnahmsweise nicht zu duschen. Ich entscheide mich für Letzteres.

Nach der morgendlichen Katzenwäsche und dem Frühstück soll es zu unserem nächsten Auftrittsort, einem sogenannten „Volkseigenen Betrieb“ gehen. Das „Management“ ist mit dem Bus bereits vorausgefahren. Wir Modelle werden von Heinz in einem nahegelegenen Friseursalon für den Auftritt vorbereitet. Zurück im Hotel bittet er die Dame an der Rezeption, uns ein Taxi zu rufen.
Mehrmals, und mittlerweile ziemlich nervös, weil ohne Erfolg, dreht sie an der Wählscheibe ihres roten Telefons.
„Mit einem roten Telefon kommt man bei uns direkt zu Gorbatschow und hier reicht die Verbindung nicht mal bis zum nächsten Taxistand!“ meint Heinz nun doch etwas ungeduldig.
Der jungen Frau steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben: “Es ist Sonntag und bei uns ist heute Jugendweihe, da sind alle Taxis ausgebucht.“
Irgendwann steht dann doch ein „Wartburg“ vor dem Eingang. Für vier Fahrgäste wird es ziemlich eng, aber sowohl für den Fahrer, als auch für uns wird die Fahrt ein heiteres Erlebnis.
Im „VEB“ bekommen wir in der Kantine ein Mittagessen serviert, bei dessen Anblick das Wort Sättigungsbeilage eine eigene Bedeutung erhält.

Vielleicht liegt es an der Tageszeit, oder an der Lokalität, oder auch an der Jugendweihe, dass die Zuschauer an diesem Nachmittag nicht so zahlreich erscheinen, wie am Abend zuvor.
Zwischen dieser Stadt und uns will ein Sympathiefluss noch nicht ungehindert strömen.

In Karl-Marx-Stadt (oder Chemnitz) halten wir uns nicht mehr lange auf. Das nächste Ziel unseres Werbefeldzuges in den Osten ist Dresden. Die Perle Sachsens, die durch den Krieg ein schweres Erbe angetreten hat. Ich bin wirklich neugierig, was man uns vierzig Jahre vorenthalten hat.
Am späten Sonntag-Nachmittag erreichen wir Dresden.
Entlang der Elbe fahrend, eröffnet sich uns auf der gegenüberliegenden Seite der Blick auf die wunderbare barocke Silhouette der Stadt mit ihren alten Gaslaternen und den restaurierten Gebäuden.

In der Prager Straße sollen wir in einem Friseursalon für unseren nächsten Auftritt vorbereitet werden.
Was ist nur aus dieser einst prachtvollen Flaniermeile geworden? - Eine kahle Betonwüste!
Der Salon ist für diese exponierte Lage viel zu groß. Im Westen wäre die Miete unbezahlbar.
Wir nehmen Platz auf den Sesseln, einem Standartmodell, dem man hier überall begegnet. In der Luft liegt der leicht ätzende Duft von Dauerwell-Tinktur und auf den Frisiertischen stehen unbeschriftete Fläschchen mit toxisch anmutenden Flüssigkeiten in rot, gelb und blau. Haarfärbemittel. Glücklicherweise müssen wir nicht darauf zurückgreifen.
Der Besitzer ist äußerst stolz, uns bei sich empfangen zu dürfen. Er hofft auf einen Vertrag mit der Kosmetikfirma, die ihm den Salon modernisieren soll. (Nicht nur er wartet auf die versprochenen blühenden Landschaften.)

Dem Dresdener Publikum stellen wir uns am Abend im Hygiene-Museum vor.
Im weitesten Sinne bieten wir zwar auch Körperpflege an, aber im Museum...? Vom gläsernen Menschen, der dort stehen soll habe ich gehört. Auf Knopfdruck kann man die einzelnen Organe zum Leuchten bringen, aber wie will man uns dort in Szene setzen?
Tatsächlich gibt es auch noch einen großen Saal, in dem für uns ein langer Laufsteg aufgebaut wurde.
Vor ausverkauftem Haus, präsentieren wir nochmals internationales Friseur-Handwerk.
Voller Schwung, im Takt der Musik betrete ich solo den Laufsteg.
… zack – das Licht ist weg. Mich umgibt rabenschwarze Nacht. Wir haben es wohl geschafft, das Stromnetz zum Erliegen zu bringen. Hilflos und regungslos stehe ich da.
Doch man hat dort alles im Griff. Die Scheinwerfer sind wieder auf mich gerichtet und ich kann meinen Lauf beenden. Sogar ein extra Applaus wird mir zuteil, oder soll er den patenten Handwerkern gelten, die im Hintergrund das Malheur so schnell behoben haben?

Kein 'Lambada' zum Abschluss, dafür werden Geschenk-Sets, die einen Fön und Haarpflegemittel enthalten an einige Zuschauer in den vorderen Reihen verteilt.
Der Gedanke an eine Raubtierfütterung drängt sich auf, wie die Hände sich gierig nach den Plastik-Beuteln ausstrecken.
Auf diese Weise wird mit Sicherheit der falsche Eindruck vermittelt, im Westen sei alles im Überfluss vorhanden und große Geschenke werden einfach unters Volk geworfen. Dabei ist doch die einzige Bestrebung, in den Menschen, die noch nicht durch eine Werbe-Flut abgestumpft sind die Sehsucht nach dieser Marke zu wecken, der sie von nun an ein Leben lang die Treue halten sollen.
„Sitzt im Publikum eine Frau, die in nächster Zeit heiraten möchte?“
Sofort wird eine Hand nach oben gestreckt.
„Haben sie schon ein Brautkleid? Noch nicht? - Dann bekommen sie von uns eines geschenkt!“
Weinend vor Glück und unter tosendem Applaus nimmt die junge Frau den Traum in Weiß entgegen.

Zwei erfolgreiche, aber anstrengende Tage liegen hinter uns. Müde, aber immer noch angespannt fahren wir zu unserem Nachtquartier.
„Nach Bautzen!? - Das ist doch ein berüchtigtes Gefängnis!“
Was erwartet uns wohl heute?
Im Gefängnis landen wir nicht, dafür in einer von einem freundlichen Ehepaar privat geführten Pension mit beinahe westlichem Standard. Die absolute Krönung ist das kalte Buffet, das für uns aufgebaut wurde. Nach dem Entzug von kulinarischen Highlights stürzen wir uns auf belegte Wurst- und Käsebrote, Spreewälder Gurken, Eiern und, und, und...
Dazu Radeberger Pils, was auch die allgemeine Stimmung merklich steigen lässt. Das Wirts-Ehepaar bedient uns zuvorkommend, reserviert und etwas unsicher, ob man diesen verrückten Wessies wirklich trauen kann.
„Gibt's auch Rotkäppchen-Sekt hier?“ erkundigt sich Heinz und erzählt einen Witz nach dem anderen. Natürlich bekommen wir auch den gewünschten Sekt und Heinz lädt die Wirtsleute ein, sich zu uns an den Tisch zu setzen. Der Alkohol zeigt seine Wirkung und bald dürfen wir auch über Sachsen-Witze lachen.
Bis zur wirklichen Einheit ist es noch ein langer Weg, aber ein winziger Anfang ist gemacht.







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