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Donnerstag, 16. Juli 2015

KLASSENTREFFEN






„Hallo Charlie... du ?!“ Die Nummer auf dem Display vom Telefon ist mir nicht bekannt.
„Ich dachte, wir könnten ein Klassentreffen veranstalten. In unserem Alter weiß man nicht, wie lange das noch möglich ist.“
Drei unserer Mitschüler haben uns schon verlassen, erfahre ich im Gespräch. Einer von ihnen ist schon vor Jahren in Marokko an Lungenkrebs gestorben. Ein anderer, obwohl ein guter Sportler, war anscheinend schon lange Zeit krank und niemand wusste davon. Beim Dritten kennt keiner genau die Gründe. Drogen oder so … 68er Generation eben.

Damals, vor 45 Jahren nahm die Schule meinem Gefühl nach nicht denselben Stellenwert ein wie heute. Man wurde nicht durchgeschleust, um möglichst schnell eine tolle Karriere zu absolvieren, sondern sah darin auch eine Institution, die Allgemeinbildung vermittelt.
Ab der 10. Klasse trennten sich viele Wege. Einige begannen mit einer Berufsausbildung, andere wechselten zu einem fachbezogenen Gymnasium und nur, wer ein konkretes Ziel vor Augen hatte, hielt bis zum Abitur durch. - So wie Charlie.
Er war immer Klassenbester und räumte einen Preis nach dem anderen ab. Man muss jedoch berücksichtigen, dass es für ihn nicht diese Ablenkungen gab wie für uns, da er von Geburt an blind ist.
Was heute zu unendlichen Diskussionen Anlass gibt, war für uns selbstverständlich. Den Unterricht verfolgte er anhand von Büchern in Braille-Schrift und Notizen machte er sich mit einem speziellen Stift. Klassenarbeiten tippte er in seine Schreibmaschine. Das erschwerte mitunter die Konzentration der übrigen Mitschüler, aber keiner wäre auf die Idee gekommen sich zu beschweren. Für seinen Nebensitzer war die Verlockung abzuschreiben groß und erst heute erfahren wir, dass es für ihn Grund genug war, die Blindenschrift zu erlernen.
Beide promovierten später. Der eine in Jura und der andere in Naturwissenschaften. - Ein erfolgreiches Team.

Mit einem seltsamen Gefühl gehe ich zu diesem Treffen, denn an meine Schulzeit erinnere ich mich nur ungern. Zurückhaltend und möglichst unscheinbar saß ich in der hintersten Bank. Immer mit der Hoffnung, dass mich die Lehrer dort übersehen. Nach vorne, an die Tafel zu gehen, kam mir einer öffentlichen Bloßstellung gleich.

Wenige Schritte vor dem Lokal sehe ich Matze. Was hat ihn bloß so unverändert erhalten?
Er ist immer noch ein lässiger Typ - cool würde man heute sagen -„Ich fand dich in der Schule schon toll, aber damals mit sechzehn warst du für mich unerreichbar“, eröffnet mir Matze zum Abschied und ich fühle mich wie ein Teenager, der zur Tanzstunde eingeladen wird. mit einem Faible für schwarze, amerikanische Sportwagen. Mit dem Gesicht oft in meine Richtung gewandt statt zum Lehrer, saß er eine Bank vor mir. Zu seinem Leidwesen wurden diese jugendlichen Flirtversuche von mir nicht als solche wahrgenommen.
„Matze!“ Drei Mal rufe ich seinen Namen und versuche mich bemerkbar zu machen, aber er hört mich nicht. Nun ja, denke ich, er hat mittlerweile auch die sechzig überschritten und muss etwas schmunzeln.

Drinnen sind schon fast alle versammelt und teilweise habe ich Mühe, die Gesichter richtig einzuordnen. Bei ein paar jedoch, kommt die Erinnerung sofort zurück.
Die Ulli sieht schlecht aus,denke ich so bei mir und muss kurz darauf erfahren, sie habe Krebs.
Alle haben wir das eine oder andere Zipperlein und schlucken brav die verordneten Tabletten, aber Krebs hört sich so endgültig an. Etwas, was man gerne ausblendet, solange man nicht selbst davon betroffen ist.

„Kommt Harald aus Amerika?“ Alle dachten, er hätte mit seiner „Green Card“ das große Los gezogen, aber als Architekt hat er im gelobten Land ziemlich zu kämpfen, wie er erzählt und verspricht, beim nächsten Treffen dabei zu sein. Auch meine damals beste Freundin hat sich auf die schriftliche Einladung nicht gemeldet. Dolmetscherin wollte sie werden, aber über Google weiß ich nun, dass sie Skulpturen aus Holz fertigt.

Außer bei unseren Doktoren sind die großen Karrieren ausgeblieben. Die Männer arbeiten teilweise in sozialen Berufen. Dieses Engagement verdient jedenfalls großen Respekt. Von den Frauen besitzt eine einen Kosmetiksalon und dann gibt es noch die Lehrerinnen. Ein Beruf, der damals gerne ergriffen wurde.
Eine Geographie-Lehrerin, kurz vor ihrer sicheren Pension stehend erklärt mir das Wetter und wie es zum Klimawandel kommt. Ein Leben für die Schule! Aber dann zieht sie ein komplettes Nagelnecessaire aus der Tasche mit der Bemerkung, sie habe immer alles lebensnotwendige dabei, sollten sie plötzliche Fluchtgedanken überkommen. Damit hat sie das Geheimnis unserer großen Handtaschen gelüftet.

Ulli verabschiedet sich schon früh mit der Entschuldigung, Kranke gehörten ins Bett. Bedauerlicherweise habe ich versäumt, mich mit ihr zu unterhalten. Ich dachte es bleibt noch Zeit.

Jeder hat schwierige Zeiten durchlebt. Ist hingefallen und wieder aufgestanden.
Während der Schulzeit war die nächste Klassenarbeit wichtig, oder dass man zu jeder Party eingeladen wird. So viele Gedanken um die Zukunft, wie heute machte man sich nicht. Die Wahlmöglichkeiten waren nicht so groß.
Als kleine Sensation wurde aufgenommen, dass ich angefangen habe zu schreiben. Niemand hätte dies mit mir in Verbindung gebracht.
„Ich fand dich damals in der Schule toll, aber mit sechzehn warst du für mich unerreichbar“, eröffnet mir Matze zum Abschied und ich fühle mich wie ein Teenager, der zur Tanzstunde eingeladen wird.

So viele Lebensläufe mit so viel Leben darin! Dabei haben wir uns in 45 Jahren nicht so sehr verändert, wie die Welt um uns herum. Nur an unseren Erfahrungen sind wir gewachsen.
Ein Zusammentreffen das bereichert hat und vielleicht lässt es sich bald wiederholen.