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Samstag, 30. November 2013

Rückzug




„Ich habe meinen Termin bei Dr. Franz versäumt.“
„Was ist das für ein Arzt?“
„Für Gefäße.“
„...und warum sollst du dahin?“
„Ich saß in einem Zimmer im Ärztehaus, und wurde dorthin geschickt. Manchmal bin ich etwas vergesslich – immerhin bin ich schon 85!“

Aufgeregt blättert sie in ihrem Spiral-Kalender, der an allen Seiten mit Post-its beklebt ist, auf denen zusätzlichen Notizen vermerkt sind.

„Oder ist der Termin erst später? - Nein, da steht's doch, der Termin war schon vorgestern!“

Der halbe Tisch ist übersät mit Notizen, Zeitungsausschnitten, Glückwunschkarten, Todesanzeigen, alten und neuen Brillen. Wie soll man sich inmitten dieses Chaos zurechtfinden?

„Das kann schon mal passieren, ich vergesse auch manchmal etwas“ beruhige ich sie.
Mit einem neuen Thema versuche ich die Situation zu entspannen und erzähle, am Samstag hätte ich meine Tochter Ella besucht. Mit großem Interesse folgt sie meiner Erzählung, das aber schon nach ein paar Sätzen wieder erlischt. Dafür bekomme ich ausschweifend längst bekannte Geschichten zu hören, die negativ in ihrem Gedächtnis verankert sind. Übergangslos geht es weiter mit Stellungnahmen zur Globalisierung, oder wie schädlich sich das Internet auf die Menschheit auswirkt. - Das Fernsehen bringt ihr die Welt ins Wohnzimmer. - Anschließend werden Erlebnisse aus der Vergangenheit mit der heutigen Zeit verglichen.
Geduldig höre ich immer wieder von Neuem zu, denn wer, außer der eigenen Tochter hat Verständnis für Probleme, die in Wirklichkeit nicht existieren?

„Ach, und hast du mal wieder etwas von Ella gehört?“
„Ja, ich habe sie am Wochenende besucht.“
„Das ist aber schön!“

Andere könnten es für Gedankenlosigkeit oder Schusseligkeit halten, die Erfahrung sagt mir jedoch, es ist ein langsamer, aber unaufhaltsamer Rückzug in eine Welt, zu der am Ende niemand mehr Zugang haben wird.
Was bleibt ist Resignation und Hilflosigkeit.

Dienstag, 19. November 2013

Abteilung 17



Ein glücklicher Mensch – was ist daran interessant?
Jemand, der so vollkommen mit sich im Reinen und unauffällig ist, wird doch von niemandem beachtet.
Efrem singt und strahlt den ganzen Tag, ein wirklich fröhlicher, zufriedener Mensch.
Seine Hautfarbe ist schwarz und er trägt die feinen Gesichtszüge eines Ostafrikaners. Dabei ist er sehr schlank, und seine gestreifte Uniform-Weste hängt ziemlich traurig an ihm herunter. Ein wenig abgeschabt sieht sie aus, aber das stört ihn nicht. Täglich geht er singend und pfeifend, mit strahlendem Gesicht seiner Arbeit nach.
Seine Aufgabe ist es, in der Damen-Toilette für Firmen- Mitarbeiterinnen - intern Abteilung 17 genannt, Papierrollen und Handtücher nachzufüllen. Abfallkörbe zu leeren und die Waschbecken sauber zu halten. Kaum jemand, außer ihm, würde in dieser Arbeit seine Erfüllung finden.
Efrem ist aus seiner Heimat Eritrea geflohen. Dort drohten ihm lebenslanger Militärdienst und Zwangsarbeit. Der Sold, den er dort erhielt, reichte nicht zum Leben und unter der dort herrschenden Militärdiktatur liegt das ganze Land brach. Mit dem Geld, das er in Europa verdient, kann er seine ganze Familie zu Hause ernähren.

Wer nichts hat, kann in den kleinsten Dingen das allergrößte Glück finden.
 - Für Isi -






Dienstag, 12. November 2013

Zeitreise

Wo finde ich Zeitungsartikel für eine Recherche über ein bestimmtes Gasthaus anno 1914? Möglicherweise im Archiv meiner Heimatstadt.
Untergebracht ist es in einem unscheinbaren Gebäude zwischen historischen Bauwerken.
Nach dem Öffnen der Eingangstüre fühle ich mich augenblicklich in das Haus meiner Großmutter versetzt. Von einem düsteren Gang aus, kommt man in verschiedene Räume, die öffentlich genutzt werden.
Gleich links führt eine viertelgewendelte Holztreppe in das nächste Stockwerk zum Archiv. Beim Betreten der knarrenden, mit Linoleum belegten Stufen, und beim Berühren, des glatt polierten Holzhandlaufes, überkommt mich das Gefühl, eine Zeitreise in die Anfänge des letzten Jahrhunderts anzutreten.
Räume, die den Eindruck erwecken, einst als Wohnung gedient zu haben, in denen die Wände ringsum bis unter die Decke mit Büchern und Ordnern vollgestellt sind. In der Mitte des größeren Raumes sitzt ein alter Herr im schwarzen Anzug an einem Tisch und macht sich Notizen aus einem Buch.
Seitlich, fast zwischen den Büchern verborgen sucht ein älterer Mann Informationen an einem Bildschirm,- ein Mikrofilm-Betrachter wie es scheint. Wenigstens ein Gegenstand, der mich daran erinnert, dass ich mich in der Gegenwart befinde.
Eine Verwaltungs-Angestellte versorgt mich im Nebenraum mit dem gewünschten Informations-Material in einem Leitz-Ordner. Damit setze ich mich neben den alten Herrn an den Tisch.
"Meinen Schülern in der Oberstufe habe ich immer gesagt, es ist wichtig zu wissen, wo man nachschlagen kann." erklärt er dem Mann am Betrachter.
Für einen Moment werde ich ganz hellhörig und vergesse, in meinem Zeitungsartikel weiterzulesen. Ich frage ihn nach seinem Namen und ob er an der hiesigen Schule Lehrer gewesen sei. Bei der Nennung seines Namens fühle ich mich sofort wieder in die Vergangenheit versetzt.

Dreizehnjährig sitze ich im Klassenzimmer. Vor mir ein Lehrer, den ich altersmäßig nicht richtig einschätzen kann. Selbstgerecht und humorlos versucht er Wissen zu vermitteln und mit geringem Interesse wird es kurzfristig gespeichert, da von der korrekten Wiedergabe immerhin die eigene Zukunft abhängt.

Überrascht erkläre ich ihm, dass ich vor über vierzig Jahren seine Schülerin war. - Nur ein flüchtiger, abschätzender Blick, der für einen kurzen Moment Ratlosigkeit erkennen lässt, und kommentarlos fährt er fort sich ausschweifend über die Bausünden der letzten Jahrzehnte auszulassen. 81 sei er inzwischen und durch einen Schlaganfall linksseitig gelähmt, bemerkt er noch im Hinausgehen.

Seltsam, meine Zukunft konnte er in keiner Weise beeinflussen, und von dem ganzen übertragenen Wissen ist vielleicht nur geblieben, dass ich heute hier sitze und weiß, wo ich etwas nachschlagen kann.

Sonntag, 3. November 2013

Der Kreislauf des Geldes

Wie Hunde vor einem Metzger-Laden, werden die Männer auf der Sitzgruppe abgelegt, wenn sie samstags mit mehr oder weniger Begeisterung auf Shopping-Tour dürfen.
Geduldig warten sie, bis die Begleiterin ein Modell vorführt und sie um ihr Urteil gefragt werden. Um die Prozedur abzukürzen, fällt es dann auch meistens positiv aus.
Dauert es doch länger, dösen sie vor sich hin, oder schlafen ein, mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund.

Gutsituierte, ältere Herren in Begleitung junger, attraktiver Damen sind dagegen sehr bemüht, diese mit den exklusivsten Teilen auszustatten. Zuweilen kommt diese Dame am nächsten Tag mit der Ware wieder und tauscht sie gegen Bares um. - Auch eine Möglichkeit, um ein Geldgeschenk stilvoll zu verpacken.

Jedem wird mit Diskretion begegnet, und selbst unzufriedene Kunden werden mit ausgesuchter Höflichkeit bedient.
Eine hysterische Mittfünfzigerin möchte reklamieren. Ein Faden hat sich an ihrer Armani-Jacke gelöst. Sie weiß nicht genau wo, und wozu er benötigt wurde, aber sie hatte ihn plötzlich in der Hand.
Die Dame hat keine Zeit und wünscht auch keine Diskussion, deshalb verlangt sie,wenigstens den Abteilungsleiter, oder besser noch den Geschäftsführer zu sprechen. Es stellt sich heraus, es war eine Fixierung der Falten für den Transport, die versehentlich nicht entfernt wurde.
Natürlich wird, um sie zu beruhigen, der Heftfaden wieder eingenäht. - Es bleibt abzuwarten, ob sie das teure Stück mit diesem Accessoire tragen möchte.

Unkompliziert ist die Kundin, die sich aus geschäftlichen Gründen gut kleiden muss. Sie weiß, was sie möchte, und was zu ihr passt. Sie tritt dem Personal respektvoll, und auf gleicher Augenhöhe gegenüber.
Es sind Frauen, die gewohnt sind Menschen zu führen.

Ausgesprochen hochnäsig dagegen gebärden sich verwöhnte Töchter, die mit Mutti und Hundchen im Gucci-Täschchen auftauchen und sich so ausgestattet schon als It-Girl fühlen. Bei der Daunenjacke im vierstelligen Bereich ist sich die junge Dame dann auch nicht sicher, ob bei den Mitschülerinnen der Verdacht aufkommen könnte, sie trage diese Ski-Jacke nur, weil sie sonst nichts anzuziehen habe.

Die allermeisten Mädchen können nur träumen, von der schillernden Welt der großen Mode. Da stehen sie dann auch mit ihren nachgemachten Handtaschen in einer nicht enden wollenden Schlange, um sich ein Buch eines noch wenig bekannten Designers signieren zu lassen. Vielleicht sind sie an dessen Inhalt nicht interessiert, aber sie träumen davon, kurzzeitig in eine glamouröse Aura dieser Persönlichkeit einzutreten.
Oder die Eltern, die mit ihrer Prinzessin über tausende von Kilometern angereist kommen, ersehnen sich diesen Glanz. Damit ihr Marktwert steigt, wird ihr ein neues Näschen verpasst, und zur Belohnung für die Strapaze, erhält sie ein ausgefallenes Designer-Stück.
Überhaupt treffen Kunden aus dem fernen Ausland ihre Wahl sehr zielgerichtet, sobald es sich um ein bekanntes Label handelt. Aber kaum jemand verfügt über alle Sprachkenntnisse, die der Markt heute verlangt, Gebärden jedoch, werden international verstanden.

Leider wissen oft diejenigen, die über die entsprechenden Mittel verfügen, trotz entsprechender Beratung, nicht sich stilvoll zu kleiden und die Tüten fristen ihr Dasein unausgepackt im Schrank. Dagegen bleibt es für diejenigen oft unbezahlbar und unerreichbar, welche die Kostbarkeiten zu schätzen wissen.


Bis ins hohe Alter besteht der Wunsch in Schönheit zu baden, da bilden auch Gehhilfe, Beatmungsgerät oder beginnende Demenz keinen Hinderungsgrund.
Die Schränke quellen über für den Moment des Glücks, in dem die Karte durch den Schlitz des Scanners gezogen wird.
Die Unsichtbaren, die hinter den Kulissen, immer bemüht sind, alles ganz selbstverständlich und edel aussehen zu lassen, leben von diesem Glücksgefühl. Der Kreislauf des Geldes verhilft ihnen zu einem Auskommen.