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Sonntag, 4. März 2018

CIAO BELLA !





Mit beginnendem Wohlstand keimte nach entbehrungsreichen Zeiten die Sehnsucht nach fremden Ländern in der deutschen Seele. Als erstes folgte man unserem geschätzten und bedeutenden Reiseführer Goethe in das Land, wo die Zitronen blühen – nach Italien.
So packten auch meine Eltern 1962 die kleine Schwester und mich in unseren roten Borgward, und fuhren zu neuen Ufern mit Ziel Alassio an der Riviera. Zwar hatten wir ein Hotel mit Vollpension am Strand gebucht, aber weil man der fremden Küche etwas skeptisch gegenüberstand, nahm man außer leichter Sommerkleidung vorsichtshalber noch Schinkenwurst in Dosen aus der Region und Nescafé in Pulverform mit.
Nach der Überquerung der Schweizer Alpen, öffnete sich vor uns ein quasi neuer Kontinent.
„Die Italiener können halt Straßen bauen“, bemerkte meine Papa, als Bauingenieur und somit Fachmann voller Bewunderung.
Tatsächlich lag vor uns der Asphalt wie schwarzer Samt und unser Auto glitt dahin, dass die Stoßdämpfer arbeitslos wurden. Gut, diese Straßen waren alle neu, wogegen unsere rumpelnden Betonpisten auf tausend Jahre ausgelegt waren.

Mit meinen zehn Jahren saugte ich all die fremden Eindrücke begierig auf.
Überall flitzen junge Männer auf ihren Vespas durch die engen Straßen und umkurvten laut hupend winzige Autos und schicke Cabriolets. Quer auf dem Sozius saßen Signorinas und ihr ausladender Petticoat bauschte sich im Fahrtwind. Aus den Koffer Radios drang Musik zum Dahinschmelzen. Rocco Granata besang voller Inbrunst seine Marina und der wilde Rotschopf Rita Pavone forderte zum Twist auf.
Über allem schwebte ein Hauch von Amore und die Sonne beschien die lärmende Fröhlichkeit.
Ich konnte es kaum erwarten, siebzehn zu werden, um an diesem Leben voller Leichtigkeit teilzuhaben.

Neugierig machten mich auch diese fremden Gerüche, die überall in der Luft lagen. In einigen Gassen konnte man Essen direkt von der Straße aus kaufen. (Bei uns musste man immer durch eine Tür den Laden betreten.) Dort lagen Tomaten auf warmem Hefeteig, was herrlich duftete. Bisher kannte ich nur süße Kuchen, deshalb fragte ich meine Mutter nach dem Namen dieses Gebäcks.
„Das ist ein Tomatenkuchen, aber das schmeckt uns nicht.“
Die erste Pizza meines Lebens durfte ich nicht probieren.
Auch im Hotel gab es Neues zu entdecken. Eierfrüchte zum Beispiel, ein Gemüse, das es mir angetan hatte. Später lernte ich es als Auberginen kennen, das aber keinen Einzug in unserer heimatlichen Küche fand. Dann gab es noch diese langen Spagetti (für uns ohne „h“). Zu ihrer besseren Handhabung aßen wir mit Messer und Gabel.
Im Gegensatz zu meinen Eltern vermisste ich die deutsche Küche nicht. Trotzdem besuchten wir drei Jahre in Folge dieses wunderbare Land.

Die nächsten Urlaube verbrachten wir in Österreich und meine Träume nahmen somit ein jähes Ende. Außerdem entwickelte ich mich zu einem pummeligen Teenager, der auf einer Vespa nie die Grandezza einer Italienerin ausgestrahlt hätte.

Italien kam zu uns. In Gestalt von jämmerlichen, dürren Gestalten, ohne Lebenslust und Eleganz, wie ich es an der Riviera erlebt hatte. Sie sollten uns ebensolche wunderbaren Straßen bauen, wie sie es in ihrem Land bereits vorgemacht hatten. Auch in anderen Bereichen gab es viel Arbeit, aber zu wenig Menschen.
Man gab ihnen Notunterkünfte, wo mehrere Männer zusammen in einem Zimmer mit Minimalausstattung hausten, weil ihr Aufenthalt ja nur vorübergehend sein sollte. Was sie aber am meisten neben ihren zurückgelassenen Familien vermissten, war die heimische Küche.
Auf ihrer langen Reise von Sizilien und Calabrien transportierten sie später in ihren alten Koffern und Pappkartons die geliebte Pasta und es entstand ein neuer Geschäftszweig. Einige machten sich es bald zur Aufgabe, sich um ihre kulinarisch unterversorgten Landsleute zu kümmern.
Es entstanden kleine Lokale mit einfachen Holztischen und Stühlen. Zur Ausstattung gehörte als wichtigstes Element eine gigantische, silbrig glänzende und gefährlich fauchende Kaffeemaschine, auf die laufend eingeschlagen wurde. Man traf sich auf einen Espresso und palaverte stundenlang lautstark. Es war ein Stück Heimat in einer fremden, kalten Welt.

Unter der Brücke, die ich ständig zu überqueren hatte, gab es eine Baustelle. Dort arbeiteten diese jungen, schwarzhaarigen Männer, die im Sommer ihre nackten, braungebrannten Oberkörper zeigten. Ein Konzert von anerkennenden Pfiffen und den Rufen „Bella Signorina!“ begleiteten mein Defilé regelmäßig.
Bisher fand ich als kleiner Pummel keinerlei Beachtung, aber diese Männer weckten die Weiblichkeit in mir.
In meinem zarten Alter, ohne diesbezügliche Erfahrung, fühlte ich mich ihren Blicken ausgeliefert, deshalb versuchte ich, diesem Konzert so schnell wie möglich zu entkommen. Sobald ich allerdings diesen gefährlichen Ort hinter mir gelassen hatte, begann ich diese Bewunderung zu genießen und weihte meine Freundin mit unterdrücktem Stolz in meinen neuen Erfahrungsschatz ein. Meinen Eltern jedoch wollte ich mich nicht anvertrauen, sie hätten nur Unheil gewittert.
Alle Mädchen wurden vor diesen „Spaghettifressern und Messerstechern“ gewarnt, sie galten als suspekt und gefährlich.
Manche aber erlagen dem südländischen Charme, was meist zu häuslichen Dramen führte.

Durch harte Arbeit und äußerste Sparsamkeit brachten es viele bald zu einem gemäßigten Wohlstand und einer ordentlichen Wohnung. Die Familien kamen nach und trotz Heimweh, zog es niemanden zurück in den armen Süden.
Alles, was wir am italienischen Lebensstil so lieben, wurde kopiert. Dafür gaben wir gerne einen Teil unserer Identität auf. Spaghetti lernten wir richtig zu schreiben und mit der Gabel zu drehen, und Pizza wurde auch zu unserem Nationalgericht erklärt.

Unsere Gesellschaft befindet sich in ständigem Wandel und jede Generation gestaltet sie neu.
Wer über einen längeren Zeitraum zurückblicken kann, entdeckt bei genauem Hinsehen Gesetzmäßigkeiten.
Auch heute reisen wir in fremden Länder und wissen oft nichts über deren Bewohner, weil man das Hässliche einfach ausblendet.



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