Es ist Frühling. Die Narzissen stehen in voller Blüte und strahlen
in leuchtendem Gelb. In Gruppen versammelt strecken sie ihre
fröhlichen, jungen Gesichter der Sonne entgegen und lassen sich von
ihr streicheln. Die allseitige Beachtung und Bewunderung genießend
tanzen sie sanft im Wind.
Einsam, mit traurigen Augen und in dunklen violetten Samt gekleidet
steht ein kleines Veilchen am Wegesrand. Erst gegen Abend bescheint
die untergehende Sonne sein Bett aus Moos, von wo es voller Sehsucht
zu den strahlenden Narzissen schielt.
„Ich bin so klein und unscheinbar, in meinem dunklen Kleid werde
ich an diesem schattigen Platz von niemandem beachtet. Die Narzissen
blicken voller Hochmut zu mir herüber. Niemals werden sie mich bei
sich aufnehmen.“
Vor lauter Kummer lässt das Veilchen sein kleines Köpfchen hängen,
während es mit seinem Schicksal hadert.
„Wenn ich mich sehr anstrenge und alle Kräfte mobilisiere,
vielleicht kann ich dann noch wachsen!“
Seine feinen Wurzeln bohrt es auf der Suche nach wertvoller Nahrung
tiefer und tiefer in die Erde. An nichts anderes kann dieses zarte
Blümchen mehr denken, als ebenso schön und begehrenswert wie die
Narzissen zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen wendet es mit einem
unbändigen Willen seine ganze Kraft auf, um sich alles aus dem Boden
zu saugen, was dieser herzugeben imstande ist.
Diese harte Arbeit und übernatürliche Anstrengung wird im Sommer
belohnt. Aus dem unscheinbaren Veilchen hat sich eine kräftige,
hochgewachsene Rose mit feuerroten Blütenblättern entwickelt. Wie
ein Sonnenuntergang über dem Meer, so leuchtend rot streckt sie sich
gen Himmel.
Zu ihrem Schutz hat sie sich in ein Dornenkleid gehüllt. Niemand
soll sie mehr verletzen.
Glücklich, weil von jedermann bewundert blüht sie bis spät in den
Herbst in ihrer vollen Schönheit.
„Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen“, tuscheln die
inzwischen verwelkten und vertrockneten Narzissen voller Neid. „Mit
Sicherheit verfügt sie über ein geheimes Zaubermittel, das ihre
Frische erhält.“
Die Rose ignoriert, was über sie geredet wird. Nur sie allein weiß,
welcher Kraftaufwand und wie viel Disziplin nötig waren, um sich
ihren Traum zu erfüllen.
Die Moral von der Geschichte:
Bist du ein Nichts, bleibst du unbeachtet. Hast du Erfolg, bringt es
dir zwar Neider, aber innere Befriedigung.
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